Ich werde euch alle vergiften

„Die schrecklichen Eltern“ — Ein Film von Jean Cocteau wieder im Kino  ■ Von Christiane Voss

Ein Theatervorhang füllt das Bild, Titel rollen darüber, bis er gelüftet wird und die Kamera direkt auf ein riesiges Männergesicht mit Taucherbrille zufährt – so führt Cocteau seine „schrecklichen Eltern“ ein. Die Distanz zur Theaterbühne ist damit sogleich aufgehoben, und der Zuschauer findet sich im geschlossenen Raum einer Familie wieder, um deren Verstrickungen das weitere Geschehen kreist.

Mächtiges Zentrum dieser Familie ist Yvonne, die seit der Geburt ihres Sohnes Michel blindwütig auf diesen fixiert ist und sich darüber hinaus bestenfalls noch für ihre Zuckerkrankheit interessiert. George, der Mann des Hauses, fristet ein zurückgesetztes Schattendasein am Rande, als Erfinder ohne Erfindungen. Leo, die Schwester Yvonnes, lebt mit der Familie, die sie allein ernährt, als einzige Ordnungsinstanz und Gewähr des Realitätsprinzips. Ihr Motiv ist nicht ganz selbstlos: bevor ihre Schwester George heiratete, war sie mit ihm verlobt. Um trotz seiner schmerzlichen Absage in seiner Nähe sein zu können, macht sie sich für seine Familie unersetzbar.

In diesem Zirkel unerfüllter Sehnsüchte ist nur noch einer unverletzt: Michel. Die Logik der Tragödie allerdings macht auch seine Initiation erforderlich. Außerhalb des mütterlichen Banns lernt er Madeleine kennen, eine wahre Ikone bürgerlicher Ordnung, Unschuld und Sauberkeit. Ihre beginnende Liebe ist aber in doppelter Hinsicht unmöglich: zum einen duldet Michaels Mutter keine zweite Frau neben sich, zum anderen stellt sich heraus, daß Madeleine ebenfalls die Geliebte von Michels Vater ist. George hat ausgerechnet mit dem Geld Leos seiner Mätresse eine repräsentative Wohnung finanziert, in der Vater und Sohn, ohne es zu wissen, ein abwechselndes Stelldichein betreiben.

In verzweifelter Geschlossenheit, die sich bei allen schließlich aus unterschiedlichen Eifersuchtsmotiven ergibt, versucht die Familie die Aufdeckung des Skandals vor Michel und dessen Hochzeit mit Madeleine zu verhindern. Nur dieses eine Mal verläßt die Familie ihren angestammten Heimatplatz, dessen Wände immer enger zusammenrücken und wo die Luft für alle immer dicker zu werden scheint. Ihr Besuch bei Madeleine endet mit ihrem Nervenzusammenbruch und der vorläufigen Trennung der Geliebten.

Der intrigante Versuch jedoch, den natürlichen Lauf der Dinge auszuhalten, rächt sich an der Familie. Nichts ist mehr, wie es einmal war: der geliebte Michel zieht sich in Bitterkeit und Liebeskummer zurück. Erst jetzt realisiert Yvonne, wie irreversibel der Verlust ihres Sohnes ist. Während ihre Schwester und Leo den tragischen Fehler wiedergutzumachen bereit sind – und dafür sorgen, daß Madeleine und Michel nun doch zusammenkommen können – zieht Yvonne ihren Anspruch auf Michel nicht zurück, sondern entscheidet sich für die Losung: „Ich werde euch alle vergiften!“, indem sie sich umbringt.

Hier ist es nicht der Konflikt zwischen einer göttlichen Ordnung und unfolgsamen Menschen, wie in den klassischen Vorbildern der Tragödie, sondern die Unvereinbarkeit der menschlichen Ansprüche selbst, die die Ausweglosigkeit des Daseins ausmacht.

In diesem klaustrophobischen Kammerspiel spielt Cocteau nicht einfach Moral gegen Unmoral aus, sondern folgt eher beschreibend als wertend dem Prozeß des Scheiterns falsch verstandener Liebe. Maßlose Exklusivitätsansprüche, besitzergreifende Eifersucht, Egoismus und Verlustängste dominieren die Handlungen der Figuren zwar, aber da sie nicht wissen, was sie tun, sind sie alle unweigerlich Täter und Opfer ihrer selbst zugleich. Leo ist die einzige Person in dem Cocteauschen Geflecht, die – so wörtlich – „nicht dem Herzen, sondern dem Verstand folgt“, und dafür mit der konsequenten Unterdrückung heimlicher Wünsche und Möglichkeiten bezahlt. Glück kommt nur da vor, wo keinerlei Absicht und Planung mehr am Werke ist, im Fall wechselseitiger Liebe also.

Ohne in Psychologismus abzufallen, verschreibt Cocteau sich dem Realismus, und ohne bloß realitätsabbildend zu sein, verweist er stets auf die Mittel seiner Darstellungskunst: die Schauplätze des Geschehens sind immer als Bühnenraum identifizierbar, der Vorhang fällt am Ende und versetzt uns in den Publikumsraum zurück. Die Radikalität der Thematik sowie die Magie der Cocteauschen Bilder machen seine „schrecklichen Eltern“ zum Lehrstück zeitloser Filmkunst.

Jean Cocteau: „Die schrecklichen Eltern“ (1948/Les parents terribles) mit Jean Marais, Josette Day, Yvonne de Bray, Gabrielle Dorziat, Marcel Andre. Zu sehen im Moviemento und im Notausgang.