Alptraum Deutschland

■ WDR-Episodenfilm: Fünf junge Filmer über das Klima im größeren Deutschland

„Du bist ein Jude“, sagt der Skinhead in der U-Bahn drohend. „Nein, ich bin Deutscher“, entgegnet der Jude Simon Rosenthal. „Dich bringen wir jetzt nach Auschwitz.“ „Auschwitz war doch 'ne Lüge“, sagt Simon, um die eigene Haut zu retten, und verleugnet in seiner Not sogar den Ort, der wohl am tiefsten in das kollektive Gedächtnis seines Volkes eingegraben ist. Ein Alptraum, den Regisseur Dani Levy in seinem Film „Ohne mich“ in Szene gesetzt hat, und wie ein Alptraum erscheint vieles, was vier junge Regisseure und eine Regisseurin in dem Episodenfilm „Neues Deutschland“ zeigen. Die Produktion wurde zuerst auf dem Münchner Filmfest gezeigt und läuft in den Dritten Programmen, zunächst heute in West 3.

Den Anstoß zu der Idee der WDR-Fernsehspielredaktion gab die Welle der rechten Gewalt; die einzelnen Beiträge entstanden in den Monaten zwischen den rassistischen Mordtaten von Mölln und Solingen. Dani Levys Arbeit zum Beispiel war eine Art Befreiungsschlag gegen die eigene Hilflosigkeit. „Wir alle wollen uns in dieser Zeit gerne formulieren. Wollen aufschreien. Uns wehren. Aufrütteln. Umso furchtbarer ist es, daß wir fast alle wie gelähmt vor den Ereignissen sitzen“, schrieb er im Dezember 1992 an den WDR.

„Ohne mich“

Der in der Schweiz geborene 35jährige Autor, Schauspieler und Regisseur („I was on Mars“) läßt in seinem Beitrag „Ohne mich“ seiner Panik und seiner Verwirrung freien Lauf. Dani Levy ist Jude und spielt in „Ohne mich“ einen jüdischen Filmemacher, den die Angst vor den neuen Nazis zu überwältigen droht.

Die verschiedenen Ebenen, Simons reale Welt, seine Halluzinationen und die bunten Fernsehbilder, durch die er mit der Fernbedienung zappt, vereinen sich im Sog seiner Ängste. Eine atemlose Selbstbespiegelung zum Klima im neuen Deutschland.

Die Aufregung über die rechten Brandschatzer hatte sich nach den auf die Morde von Mölln folgenden Lichterketten schnell wieder gelegt. Es schien auch gar nicht mehr so viel zu passieren. Philip Gröning wußte es besser und wurde nun durch die Morde von Solingen auf bittere Weise bestätigt.

„Opfer. Zeugen“

Für seinen Episoden-Beitrag „Opfer. Zeugen“ war Gröning „zu Orten gefahren, um über einen Fall zu arbeiten, und plötzlich, in Nebensätzen, tauchen ganz neue, grauenhafte Fälle auf“. Fälle, über die niemals berichtet wurde. Der 33jährige Gröning, gegen dessen Film „Die Terroristen!“ kürzlich Bundeskanzler Kohl wütend zu Felde zog, läßt Opfer und Zeugen rechter Gewalttaten vor der Kamera sprechen. Mehr noch als die Sprachlosigkeit der Opfer hat ihn die Reaktion der Zeugen schockiert. Zeugen, die Sympathie für die Opfer empfinden und nun ihren Peinigern Arbeitslager und Todesstrafe wünschen. Gröning: „Wenn Problem und Lösungsvorschlag identisch sind, muß es schon schlimm bestellt sein.“

„Ein Ort, ein Selbstmord“

Ebenfalls dokumentarisch hat sich die 30jährige Maris Pfeiffer dem Herbst 1992 genähert. Nüchtern erzählt sie in „Ein Ort, ein Selbstmord“ die Geschichte des nach einem Autounfall körperbehinderten Günter Schirmer, der sich im vergangenen September nach wiederholten Angriffen rechtsextremer Jugendlicher das Leben nahm. Bei der Recherche vor Ort, im niedersächsischen Burgwedel, hat Pfeiffer noch mehr traurige Details zutage gefördert: In der Kleinstadt will man diese Tat nicht wahrhaben und sucht statt dessen andere Schuldige – die Ehefrau. Filmemacherin Pfeiffer hat Probleme mit der knappen Zeit – alle Episoden sind etwa 20 Minuten lang. So bleiben wichtige Teile der Tragödie für den Zuschauer unverständlich.

„Heilige Kühe“

Ein Spiel mit dem Schrecken treibt Oliver Czeslik in seinem Theaterstück „Heilige Kühe“, das vor einem Jahr in der Berliner Schaubühne uraufgeführt wurde. Uwe Janson hat es für „Neues Deutschland“ erstmals filmisch inszeniert. Neonazis halten darin einen linken Dokumentarfilmer gefangen und foltern ihn. Czeslik läßt die Gewalttäter in makabre Masken schlüpfen, und die Videokamera des Filmemachers wird Teil ihrer brutalen Selbstinszenierung. Mit Ulrich Mühe ist diese Parabel über die fragwürdige Authentizität der Bilder, die uns das Fernsehen über die rechte Szene bietet, prominent besetzt.

Wo aber bleibt das alte neue Deutschland, das sich, damals auferstanden aus Ruinen, immer noch nicht in „blühende Landschaften“ verwandelt hat? Man mag es ermutigend finden, wenn der einzige wenigstens teilweise amüsante Beitrag von dem einzigen ostdeutschen Autor und Regisseur stammt.

„Kurzschluß“

Gerd Kroske, seit 1987 Defa-Dramaturg, stellt in „Kurzschluß“ eine wahre Begebenheit vor der Leipziger Oper 1990 nach: Tonausfälle stören Helmut Kohls Wahlkampfrede. Während die Menge „Rote raus!“ skandiert, gerät der Kanzler in wahrhaft revolutionäre Hochstimmung und agitiert: „Man kann uns den Strom abstellen, aber nicht das Denken verbieten.“ Kroske läßt die Ordner der Oper eine wilde Verfolgungsjagd mit dem „Attentäter“ von Sicherungskasten zu Sicherungskasten aufnehmen. Doch die Freude über das unfreiwillig komödiantische Talent Helmut Kohls und den Anflug von anarchischem Witz in „Kurzschluß“ verfliegt mit den Bildern von einer Leipziger Demonstration aus diesen Tagen, die Kroske ans Ende geschnitten hat. Hier ist Kohl längst der Buhmann, und Volkes Stimme sagt deutlich, was das neue Deutschland von Ausländern hält.

Die Themen im heißen Herbst 1992 sind andere als 1977, als Alexander Kluge, Rainer Werner Fassbinder und andere „Deutschland im Herbst“ drehten. „Neues Deutschland“ gelingt es nicht, an diesen legendären kollektiven Episodenfilm anzuknüpfen; zu sehr fallen die Perspektiven dieser Filmemacher auch formal auseinander. Thomas Gehringer

Heute, 20.15 Uhr, West 3

4. Juli, 22.45 Uhr, N 3

6. Juli, 21.15 Uhr, Südwest 3

6. Juli, 22.30 Uhr, Hessen 3

8. Juli, 22.45 Uhr, B 1