Deutsche Identität und Gewalt

■ Eine Diskussion zwischen Antje Vollmer (Publizistin und Politikerin), Zafer Senoçak (Schriftsteller), Bodo Morshäuser (Schriftsteller) sowie Werner Schiffauer (Ethnosoziologe) / Ein Vorabdruck aus dem in einer Woche erscheinenden taz-Journal „Rostock–Mölln–Solingen: Nachbarn und Mörder“

taz: Im Moment herrscht Ratlosigkeit. Die Erklärungsmuster für Brandmorde wie in Solingen pendeln zwischen den extremen Polen „Neonazismus“ und „Jugendprotestkultur von rechts“. Was genau ist los?

Bodo Morshäuser: Ich glaube, daß wir es mit einer Bewegung der Gegenmoderne zu tun haben. Im Gegensatz zur Moderne setzt die Vormoderne auf Gemeinschaft statt Gesellschaft, auf Nation und auf kulturelle Identität. Das läßt sich seit Anfang der achtziger Jahre beobachten. Zur Gegenmoderne gehört, daß man die einfache Lösung gegen die Komplexität setzt. Aus Fragwürdigkeit entsteht Fraglosigkeit, dann heißen die Parolen: Ausländer raus, aber auch Nazis raus.

Werner Schiffauer: Meine Formel hieße eher Sehnsucht nach Anarchie, eine pädagogisierte, verwaltete Welt zu durchbrechen. Die Faszination der Explosion, auch der Selbstzerstörung, der Gewalt, ein Moment des Sichselbstspürens, das sehr viel älter ist, das man im Expressionismus und Futurismus angelegt hatte und das eher eine Begleiterscheinung der Moderne zu sein scheint als der explizite Entwurf einer Gegenmoderne.

Antje Vollmer: Es existieren mehrere Erklärungsansätze: einmal die These vom langsamen Rechtsruck der Gesellschaft. Ihnen zufolge, Herr Schiffauer, ist das anarchische Gewaltpotential insgesamt gestiegen und sprang über in die politische Symbolik: Man müßte dann sehen, an welchem Punkt es vom Fußballstadion in den Ausländerhaß wechselt. Eine dritte Möglichkeit wäre, das alte Rechts-Links-Muster heranzuziehen: Zwar existiert es nicht mehr richtig, überhöht sich aber gerade deswegen symbolisch in den Auseinandersetzungen.

Viertens, und der Meinung bin ich, gibt es rundum ein wachsendes unklares Gewaltpotential, das durch die große Angst der pax atomica gebändigt worden war. Das ist freigesetzt, und der kulturelle Konsens, Gewalt zu zügeln, stimmt nicht mehr. Es gibt keine Instanz mehr, dies zu bändigen, was traditionellerweise religiös, kulturell oder durch ein hohes Staatsverständnis gebunden war. Zumindest scheinen all diese Instanzen momentan gleichzeitig geschwächt, was die anarchische Freisetzung der Gewalt bewirkt.

Wenn man wie Sie, Herr Morshäuser, das Konzept Gegenmoderne vertritt, stellt sich die Frage, ob es sich dabei um eine gezielte Aktion der politischen Rechten handelt. Oder wächst das Bedürfnis in der Gesellschaft, sich vom Konzept der Moderne zu verabschieden, und darauf antwortet die politische Rechte?

Bodo Morshäuser: Es ist ein breiter Wunsch, keine Bewegung, aber es ist ein Sound, hinter dem zweistellige Prozentzahlen lauern.

Werner Schiffauer: Ich empfinde Unbehagen bei der These von der Gegenmoderne, es ist eine vereinfachende Kategorie von oben. Ich kenne das aus der Debatte über den Fundamentalismus. Was im Augenblick eher nottut, ist doch der Schritt, den Sie, Herr Morshäuser, in Ihrem Buch taten: vor Ort zu gehen und in qualitativen Untersuchungen sich ein realistisches Bild zu erarbeiten, was wirklich los ist.

Wir merken bei unseren globalen Erklärungsversuchen, daß wir von den Ereignissen überrollt werden. Wie schnell waren wir mit den Klischees über die Ossis in Rostock bei der Hand und unseren Ableitungen über die ostdeutsche Kultur. Ich möchte genau auf die Texte hören und auf den Hintergrund schauen.

Antje Vollmer: Daß die Gewalt allüberall zu lauern scheint, könnte auch daran liegen, daß es so lange keinen Krieg gegeben hat, der diese Gewalt aus der Gesellschaft herausholte. Offensichtlich sind die friedlichsten Zeiten die Nachkriegszeiten. Fast ähnelt unsere Situation jener vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Alle waren schließlich froh, inklusive der intellektuellen Eliten, mit Hurra in den Krieg zu marschieren. Als würde der irgend etwas lösen!

Wenn es denn so wäre, wäre dies eine abgrundtiefe Bankrotterklärung intellektueller Vernunft.

Bodo Morshäuser: Da Sie sich für die These über die Gewaltzunahme entschieden, haben wir nicht darüber geredet, welchen Anteil die Linke in den Achtzigern am verschärfenden Unverständnis gegenüber „diesen reaktionären Arschlöchern“ hatte. Weil sie an dieser Konfliktunwilligkeit, aber Denunzierwilligkeit festhielt.

Werner Schiffauer: Versagen der Linken ist mir fast zu kurz gegriffen. Es ging um deutsche Identität. Auschwitz machte einen ähnlichen Diskurs wie nach dem Ersten Weltkrieg unmöglich. Man konnte über Deutschland und deutsche Identität nicht mehr wie etwa ein Thomas Mann reden.

Zafer Senoçak: Mit welcher Naivität man dann Hunderttausende Ausländer nach Deutschland holte! Die Folgen interessierten niemanden. Erst jetzt merkt man, daß hier sechs Millionen fremder Herkunft leben, zu denen man sich irgendwie verhalten muß: Erst jetzt eigentlich entdeckt man die Gegenwart.

Antje Vollmer: In den Fünfzigern war das liberale Spektrum nicht selbstbewußt, diese Fragen zu formulieren. Die Tragik der 68er aber ist, daß wir um 1989 in der Lage waren, neue Identität zu formulieren. Wir hatten eine Diskussion über die multikulturelle Gesellschaft als Errungenschaft, die neuen sozialen Bewegungen, die außerparlamentarische Konfrontation war abgeschlossen.

Es gehört zu den Dilemmata, daß die deutsche Einheit tatsächlich um einige Monate zu früh gekommen ist, um diese Identität machtpolitisch festzuhalten. Bevor die eine formuliert worden war, wurde man dann in eine andere Identität gezwungen, die auch auf die politischen Eliten polarisierend wirkte.

Fortsetzung auf Seite 15

Fortsetzung von Seite 14

Zafer Senoçak: 68 schuf eine diffuse Internationalität, man beschäftigte sich mit Vietnam, Nicaragua. Aber mit dem, was in Deutschland geschah, mit der Einwanderung, doch überhaupt nicht, oder?

Antje Vollmer: 1988/89 gab es eine Debatte, an der Willy Brandt, Lafontaine und die Grünen beteiligt waren, die forderte: wir müssen uns als Einwanderungsland definieren, Regeln schaffen und verbindlich politisch planen. Ansatzpunkt der Debatte damals war die Welle der Aussiedler, die genau solche Kulturdifferenz schufen, die allerdings geleugnet wurde, weil sie ja als Deutsche galten. Damals hätte man die Lösung in einem Kompromiß zwischen den politischen Lagern suchen müssen. Es gehört zu diesem merkwürdigen Zu-Spät oder Zu-Früh, daß dieser Versuch weder bei der SPD noch bei den Grünen durchkam — die Grünen z.B. mußten die offenen Grenzen verteidigen. Später dann bei der Asylfrage spitzten die Konservativen allein die Frage im Sinne der Polarisierung zu.

Werner Schiffauer: Ein Satz, hier undenkbar, der auf einer Diskussion in den USA über Rassismus fiel: „That's not, what this country was made for.“ Eine Vision zwar, die immer wieder verletzt und hintergangen wurde, eines Staates aber, der durch Revolution entstand und ein verbindliches Programm für Einwanderer wie Einheimische hat. Dieser Code existiert in Deutschland vielleicht sogar implizit, wurde aber nie explizit gemacht.

Wie würde er aussehen, wenn wir ihn versuchten?

Werner Schiffauer: Wir haben eine politische Kultur, die sehr stark Freiheit mit Verantwortung verknüpft. Die Identität mit dem Ganzen wird zur Voraussetzung für politische Partizipation gemacht. Wir haben ein Unbehagen am freien Spiel der Kräfte institutionalisiert. Die Folge ist eine ziemlich starke pädagogische Kultur. Das alles will den einzelnen zu einem „verantwortlichen Mitglied der Gesellschaft“ machen. Nachteil dieser politischen Kultur könnte ein extremer Schuldkomplex sein, denn das System fordert viel vom einzelnen ab, erlaubt ihm aber nicht, eigene Wege zu gehen.

Zafer Senoçak: Gesellschaft als permanente Schule. Vielleicht, weil der Ursprung der deutschen Demokratie ja auch in der Erziehung liegt, dem Zeigefinger von außen. Jetzt konstituiert sich etwas Neues, weil es von innen kommen muß. Die Gesellschaft selbst muß definieren, wer sie ist, was sie will und wie sie auch zu den letzten vierzig Jahren steht. Ist das ein Modell für heute und morgen oder nicht? Für mich ist das noch keine klar entschiedene Sache.

Antje Vollmer: Die Identitätsfrage wird vergangenheitsbezogen diskutiert, und deswegen wird es nie einen Konsens geben können. Das war schon so bei der Historiker-Debatte. Von der politischen Linken wird dies als Versuch der Normalisierung und Nivellierung historischer Verbrechen gesehen. Die andere Seite wittert vaterlandslose Gesellen. Müßten die Deutschen nicht einen Identitätsversuch starten, der sich in der Zukunft verankert?

Werner Schiffauer: Ich bin skeptisch bei solch einem idealistischen Identitätsversuch. Ist es nicht sinnvoller, der Geschichte der politischen Ideologie folgend, nicht die verlorenen Kriege und ihre Auswirkungen auf das Bevölkerungsbewußtsein zu betrachten, sondern die Genese des Sozialstaats samt seiner Institutionen, im Bismarckreich etwa. Alle diese Selbstverständlichkeiten der sozialen Sicherheit, die uns bestimmen, die wir bejahen könnten. Sie müssen ja nicht wilhelminisch-autoritär eingefaßt sein.

Antje Vollmer: Sie meinen, Deutschland sei etwa so wie die Stadt Bielefeld, von der alle denken, sie sei der Ausbund an Langeweile. Subjektiv ist es die Stadt, in der sich die meisten wohl fühlen. Niedriges Image, aber hohe subjektive Zufriedenheit. Da muß doch etwas schiefgelaufen sein!

Bodo Morshäuser: Ich glaube, es ist fast zu spät, die deutsche Frage allein zu stellen. Ich jedenfalls habe dazu kaum noch Lust. Die deutsche Definition steht auf der Seite der Gegenmoderne, und die europäisch-internationale steht auf der Seite der Moderne.

Zafer Senoçak: Das bezweifle ich sehr stark. Auch die westliche Gemeinschaft hat noch längst nicht für sich entschieden, in der Moderne zu sein. Die Gegenmoderne steckt in der Moderne, sie sind nicht getrennt. Was etwa in Jugoslawien geschieht, hat sehr viel damit zu tun. Und wie man damit umgeht.

Bodo Morshäuser: Zur Gegenmoderne zählt jetzt, kraß gesagt, nationale Identitäten hochzuformulieren. Heute werden die Grenzen mit Blut geschrieben.

Antje Vollmer: Unterschwellig haben Sie recht. Wir suggerieren doch in unserem Gespräch, hätten wir die Frage, wer oder was Deutschland sei, geklärt, dann sei einem Teil des Gewaltpotentials, dieser wild um sich schlagenden Nicht-Identität, ein Riegel vorgeschoben. Ich erinnere mich an einen Aufsatz von Karl-Heinz Bohrer, der besagt, eine tolerante Identität sei immer auch eine ironische, die in sich selbst die Möglichkeit der Distanz habe. Eine, die sich selbst in den Arm fällt. Da sehe ich bei den Deutschen allerdings eine sehr unterentwickelte Kulturtradition.

Werner Schiffauer: Den Intellektuellen fällt es nicht schwer, ausländerfreundlich und tolerant zu sein, die Vielfalt zu goutieren. Ich habe hier das gleiche Unbehagen wie mit dem Verfassungspatriotismus à la Habermas: er ist zugeschnitten auf eine bestimmte Gruppe der Bevölkerung und läßt gerade identifizierende Angebote an andere wegfallen.

Antje Vollmer: Das Wort Ironie soll ja auch ein bißchen wegführen von dieser Pädagogisierung. Es gibt eine doppelte Pädagogisierung: stolz auf dieses Land zu predigen, oder, wenn etwas passiert, zu sagen, dieses Land kippe wieder in die Nähe von Auschwitz. Alles ist tiefernst und im Grunde genommen deswegen immer panikgefesselt. Man kann natürlich nicht auf ausländerfeindliche Ausschreitungen mit Ironie reagieren, das ist absurd! Die Panikreaktion aber ist eine unglaubliche Anerkennung der Gewalttäter.

Werner Schiffauer: Wir müssen andere Wege finden zwischen diesem „Ich bin stolz, Deutscher zu sein“ und jener Inversion: „Ich schäme mich, Deutscher zu sein“.

Antje Vollmer: Einfaches Beispiel: Wenn dieses Land einen Jens Reich zum Bundespräsidenten wählen könnte, dann würde es knistern. Dann würde ich sagen: Hier ist noch etwas Neues möglich, was das Interesse breiterer Schichten, auch der Intellektuellen, wecken könnte.

Zafer Senoçak: Es gibt einen türkischen Spruch, der immer falsch übersetzt wird mit: „Ich bin stolz, Türke zu sein.“ Stimmt aber nicht. Es muß heißen: „Ich bin froh, Türke zu sein“, also froh und glücklich mit meiner Identität.

Antje Vollmer: Das ist auch dichter an der Ironie.

Werner Schiffauer: De facto existiert dieses Gefühl. Wenn man mit deutschen Linken im Ausland spricht, dann artikuliert sich das. Es ist nur uneingestanden, verschämt, man darf es nicht so empfinden.

Bodo Morshäuser: Wenn ich unterwegs bin, höre ich von allen Seiten nur, was alles falsch läuft in der Gesellschaft. Ich bin nur umgeben von Leuten, die sagen: Die machen es nicht richtig, jetzt haben die uns wieder übers Ohr gehauen. Hier leben 95 Prozent Gesellschaftskritiker.

Zafer Senoçak: Und deswegen braucht Deutschland die Einwanderer! Das sind doch die Leute, die sich im Grunde genommen hier wohl fühlen! Sie könnten ein Moment der Entkrampfung sein. Vielleicht verändert sich ja durch die Einwanderung etwas an diesen deutschen Konstanten.

Zu Beginn unseres Gespräches sahen wir die allgegenwärtige Gewalt ja fast schon im Enzensbergerschen Sinne als etwas, das lauert und gegen das man schon nichts mehr tun kann. Und dann die geradezu utopisch anmutende Perspektivdiskussion ...

Antje Vollmer: Am Anfang rutschten wir in den Bauch der Gesellschaft. Dann sind wir aus dem Bauch ausgestiegen in den Kopf, und mit dem Gefühl der intellektuellen Eliten glauben wir nun, es sei doch gar nicht so schlecht, alles scheine noch beherrschbar. Aber wie kommen Kopf und Bauch zusammen?

Werner Schiffauer: Ich habe die Angst, daß die Gewaltwelle sich reproduziert, daß sie sich hochschaukeln könnte, habe Angst, daß es einen qualitativen Sprung gibt. Nichts wirkt so ethnisierend wie Gewalt, nichts zerstört so sehr individuelle Lösungs- und Suchprozesse wie Gewalt, auf die man zurückgeworfen wird, nur weil man Türke ist, Ausländer ist, in eine Schublade gesteckt wird.

Antje Vollmer: Der erste Versuch, die Gewalt mit den Lichterketten zu marginalisieren, kulturell zu ächten, hatte eine Zeit gehalten, ist aber auch durch ein Lächerlichmachen wieder zerbrochen. Der nächste Versuch muß ernsthafter sein.

Zafer Senoçak: Die Reaktionen sind so dürftig auf seiten der politisch Verantwortlichen. Sie müssen endlich weg von dieser Rhetorik, weg von der „Heimsuchung“ und dem „Verhängnis“. Es muß konstruktive Zeichen geben und nicht nur solche der Negation, wie etwa die Strafrechtsverschärfungen. Ich glaube aber auch, daß schon eine Ethnisierung eingetreten ist. Die Türken nehmen sich selbst wieder viel stärker wahr. Ich denke dabei an all die türkischen Fahnen. Sie kommen von den Jungen, hier Geborenen, die nicht einmal extremistisch orientiert sind. Man sucht nach Symbolen, um hier zu überleben. Das verhärtet die eigene Identität. In dieser Spirale sind wir schon.

Antje Vollmer: Der Vorschlag der doppelten Staatsbürgerschaft heißt ja, diese Ethnisierung abzufedern und das Moment der Integration ins größere Ganze zu stärken. Das reicht im Moment aber nicht. Es gilt auch zu erinnern, daß das staatliche Gewaltmonopol ein unglaublicher Kulturfortschritt war, der auch von den Eliten eines Landes mitgetragen werden muß, die sich nicht einfach spielerisch davon verabschieden können. Das wußte ich auch nicht immer so klar wie heute.

Bodo Morshäuser: Wenn wir über Gewalt reden, reden wir immer über die anderen. Die Gewaltspirale wird sich hochdrehen. Diese Gewaltjugend artikuliert aber auch unsere Gewalt. Die 14- bis 16jährigen, das sind wir doch selber, unser Abziehbild, „unsere starken Leute“.

Werner Schiffauer: Manchmal habe ich auch den gegenteiligen Eindruck. Je stärker unsere Entfaltung der Lebenswelt voranschreitet, desto empfindlicher werden wir gegen Gewalt. Es gibt eine zunehmende Schwierigkeit, mit Gewalt umzugehen und geordnete alltägliche Gewaltverhältnisse zuzulassen. Ich bin mir über das reale Ausmaß der Jugendgewalt nicht ganz im klaren. Manches ersetzt doch nur die Schlägerei auf der Kirmes, das körperliche Gerangel.

Antje Vollmer: Das wäre die These, wonach sich die Ventile ändern können. Was früher das Schützenfest, ist heute das Fußballstadion oder die Sexualität. Dann wäre aber immer noch zu fragen, ob nicht durch die Art und Weise des Ventils Gewalt auch erst erzeugt wird oder Wege sich erst neu eröffnen. Wir haben im Grunde genommen nicht erklärt, woher die Gewalt kommt.

Zafer Senoçak: In Jugoslawien existierte sehr wohl eine reale multikulturelle Gesellschaft, die wir hier utopisch diskutieren. Und dies ist voller Wucht und Aggression zerstört worden. Es ist geradezu paradigmatisch für das, was hier und bald überall geschehen könnte.

Bodo Morshäuser: Wenn rechte Jugendliche in den Achtzigern mit linken Intellektuellen konfrontiert waren, merkten sie irgendwann, daß die es eigentlich gar nicht richtig ernst meinten mit dem Multikulturellen, jedenfalls in der Praxis.

Antje Vollmer: Es klang wie ein Eliteprogramm, und sie fühlten sich ausgegrenzt. Es war auch teilweise verlogen: in der Sprache, in der geforderten Kultur fühlten sie sich ausgeschlossen.

Werner Schiffauer: Es waren nicht nur die rechten Jugendlichen, die vom Multikulturellen ziemlich genervt waren, sondern auch die Einwanderer der ersten Generation. Die Emphase auf Multikulturalität war bürgerlicher Zuckerguß. Er wurde so positiv aufgeheizt, statt von pragmatischen Notwendigkeiten auszugehen, um mit einer Bevölkerung, die zum Teil gegen ihren Willen hängengeblieben war, einen demokratischen Konsens zu finden.

Zafer Senoçak: Durch die Einwanderung hat sich in Deutschland viel verändert. Erst jetzt macht sich das bemerkbar. Vielleicht gäbe es mit den eingebürgerten Fremden die gleichen Probleme, aber wir hätten dann eine gemeinsame, eine innergesellschaftliche Diskussion darüber. Dafür aber müßten sie gleichberechtigter Teil sein.

Antje Vollmer: Stimmt genau, deswegen ist es ja fast schon zu spät dafür. Es müßte nämlich die Mehrheit der zunehmend ausländerkritischen Deutschen diesen demokratischen Konsens mit den Ausländern freiwillig wollen und dies Stückchen Macht freiwillig abgeben.

In etwa sind wir in der Frage der gleichen Bürgerrechte in einer Situation wie bei der Einführung des Frauenwahlrechts. Moderation: Andrea Seibel