Es mischt sich nicht – oder doch?

Ostler und Westler, Polen und Deutsche, studieren seit zwei Semestern an der Viadrina in Frankfurt/Oder, einer neuen Universität mit europäischer Ausrichtung  ■ Aus Frankfurt/Oder Julia Albrecht

Kein Mensch wartet auf den Streifen mit Marilyn Monroe. Es ist 18 Uhr, und der riesige Kinosaal ist verwaist. Wäre heute Dienstag, wären die Reihen zwar besetzt, nicht aber der bewegten Bilder zuliebe. Studenten säßen hier. Wäre es Dienstag, würden die Jurastudenten der Viadrina hier eine „Übung in öffentlichem Recht“ hören.

Heute allerdings ist Mittwoch, und mittwochs trifft man sich im Kongreßhotel. Dann sieht es in der Lobby nach Hochsaison aus. In den Plastesesseln sitzen die Studentinnen und Studenten der Wirtschaftswissenschaften und warten auf Professor Assenmacher. Der allerdings kommt zu spät. Der Intercity aus dem Ruhrpott hat Verspätung, und so kann man sich von dem Herrn hinter der Rezeption noch einen Kaffee bringen lassen. Das Kongreßhotel war nicht immer Hotel. Vor der Wende trimmten die Funktionäre der SED ihre Sprößlinge auf Linie. In dem großen Hörsaal ging es um marxistisch-leninistische Grundbegriffe und den Klassenfeind. Heute lehren Westprofs den Segen von Angebot und Nachfrage, den Sinn des Wettbewerbs und die mathematischen Grundbegriffe zur Einkommenssteigerung.

Geburt und Taufe im Zeitraffer

An der Uni in Frankfurt/Oder ist alles anders, soll auch alles anders sein. Es gibt keine Räume, es fehlt an Geld, und erst elf Professoren sind ernannt. Dennoch begann im Oktober 1992 der reguläre Uni- Betrieb mit 460 Studenten, ein Drittel davon aus Polen. Hier ist der Grenzfluß nicht Symbol der Trennung, sondern die Brücke darüber das prägende Moment. Die Viadrina wartete nicht, bis die geeigneten Strukturen geschaffen waren, sie begann einfach. Geburt und Taufe im Zeitraffer.

Pate stand der ehrgeizige Wissenschaftsminister von Brandenburg, Hinrich Enderlein. Für „seine Landeskinder“ mußten Universitäten her, und er setzte gleich drei Sprößlinge in die Welt: Potsdam, Cottbus und Frankfurt, jede mit einem „eigenen Profil“. Und weil Frankfurt eben nicht am Main, sondern an der Oder liegt, sollte es eine Europa-Universität sein. Hehre Erwartungen wurden ihr in die Wiege gelegt: Völkerverständigung soll sie gewähren, ihre Brückenfunktion wahrnehmen und Transmissionsriemen zwischen Ost und West sein.

Die Viadrina soll. Und was ist? Eine große Idee und eine riesige Baustelle. Wegweisende Schilder leiten die Besucher zum Hauptgebäude, einem wuchtigen Klotz im Stadtzentrum. Einst residierte hier das preußische Regierungspräsidium, später dann der Rat des Bezirks, heute Dreck und Staub. Wenn eines Tages Schutt und Baugerüst beseitigt sind, wird es das Hauptgebäude der Universität sein. Die Bibliothek wird aus dem Kongreßhotel hierher verfrachtet, und die Dozenten, Dutzende sollen es werden, beziehen ihre Zimmer. Nur für die Studenten gilt das Prinzip: kein Ort nirgends – Seminarräume gibt es nicht, Vorlesungen finden im Kino oder Hotel statt, und von Studentenwohnheimen, gar Wohnungen zu sprechen wäre übertrieben.

So sitzen sie in den provisorischen Räumen und machen aus der Idee von oben Realität von unten. Sie studieren eben, lassen sich nicht weiter beeindrucken von den Provisorien und füllen aus, was abstrakt gesprochen hohl klingt: Völkerverständigung, Brückenfunktion, Transmissionsriemen. „Grundlegende Ansichten haben sich verändert“, erzählt Markus bei der abendlichen Party im Ruderclub von 1882, in den er und ein paar Kommilitoninnen und Kommilitonen eingetreten sind, „weil in Frankfurt nichts los ist“.

Früher, also noch vor wenigen Monaten, war der 22jährige Westberliner noch gegen die Wiedervereinigung und gegen Berlin als Hauptstadt, heute ist er dafür. „Die Leute, die rumlabern, haben keine Ahnung, was abgeht, die Leute in Bonn haben keine Peilung, wie's hier aussieht.“ Zwar haben sich die Vorurteile abgebaut, meint auch Barbara, eine Westlerin aus Hamburg, anderes aber hat sich als Urteil bestätigt. „Die unendliche Spießigkeit hier. Die Leute in der Straßenbahn halten immer ihren Fahrschein hoch, nachdem sie eingestiegen sind, damit auch jeder weiß, daß sie gezahlt haben.“

Barbara und Markus gehören zu der kleinsten Gruppe an der Universität. Nur 32 Studentinnen und Studenten kommen aus den alten Bundesländern. Aus dem Land Brandenburg hingegen sind 252 Studierende und 170 aus Polen. Die Universität hat sich selbst zur Auflage gemacht, daß immer ein Drittel aus Polen kommt. Auch früher studierten hier viele Polen. Die Viadrina ist nicht wirklich eine Neugründung, sondern eigentlich eine Wiederbelebung. Bis 1811 war hier die erste brandenburgische Landesuniversität, an der in ihren Blütezeiten 1.348 Polen immatrikuliert waren. Nichts erinnert mehr an die Alma mater Viadrina, „die an der Oder gelegene“. Nur das Portal von damals ist erhalten, aufgehoben im Stadtarchiv.

Anders als die deutschen Studenten müssen die Polen eine Aufnahmeprüfung ablegen. Nicht nur die Sprache müssen sie nahezu perfekt beherrschen, auch Grundkenntnisse in Mathematik und Geschichte nachweisen. „Die Polen hier heben das Niveau“, meint Markus, und tatsächlich haben sie bei den Arbeiten bisher besser abgeschnitten als die Deutschen. „Ich habe eine Aufnahmeprüfung in Poznan gemacht“, erzählt Piotr. „Vor allem die Deutschprüfung und das Gespräch waren sehr schwer. Und hier mußten wir vom ersten Tag an alle Fächer genauso wie die Deutschen belegen. Einige von uns haben am Anfang nichts verstanden.“

Die Polen genießen keinen Sonderstatus. Wollen sie ihr Stipendium behalten – jede/r bekommt automatisch 300 Mark im Monat –, müssen sie innerhalb von drei Semestern die Zwischenprüfung bestanden haben. Aber auch für die Deutschen ist das Studium rigide. „Die Professoren sind unkooperativ“, sagt Barbara. „Ich bin zu meinem Strafrechtsprof gegangen und habe ihn gefragt, ob ich meinen Schein auch im nächsten Semester machen kann.“ Was auf jeder anderen Universität eine Selbstverständlichkeit wäre, ist hier nicht möglich. „Im nächsten Semester wird kein Strafrecht für Anfänger gelehrt“, war die Antwort.

Norman, Ostberliner und Student der Wirtschaftswissenschaften, meint: „Ich weiß nicht, wie es gehen soll, das Zusammenwachsen. Mein Leben spielt sich in Ostberlin ab. Es mischt sich nicht.“ Bei den Ostdeutschen gäbe es viel Neid und Eifersucht. „Es gab für uns nicht die gleichen Chancen.“ Norman wollte eigentlich Biologie studieren, aber er bekam keinen Abiturplatz, der ihm diese Möglichkeit eröffnet hätte. Heute diskutiert er mit den Mitstudenten über die Unterschiede und erträgt die Veränderungen. Jura, ein Fach, das Markus und Barbara studieren, könnte er „niemals machen“. „Ich bin in der DDR aufgewachsen, ich habe eine ganz andere Rechtsauffassung.“

Neuberesinchen heißt der Ortsteil, wo die Studenten wohnen. Riegel an Riegel, Balkon an Balkon – kilometerlang nichts als immergleiche Plattenbauten. Die Studentenwohnhäuser „erkennt man daran, daß hier neue Briefkästen aufgebaut wurden“, sagt ein Taxifahrer. Neu ist auch der Anstrich. Bevor die Studenten hier einzogen, wurde renoviert, jetzt heben sich die Studentenriegel karg und weiß hervor.

Hier wohnen Norman und Markus, zumindest bis zum Wochenende, dann fahren sie nach Hause. Dann bleiben die Westdeutschen und die Polen zurück. Die einen in Frankfurt, die anderen in Slubice, der Stadt auf der anderen Oderseite.

Am Rande der kleinen Stadt, ehemals Vorstadt von Frankfurt, wohnen sie in einem Hotel am Waldrand für umgerechnet 40 Mark im Monat. „Durch meine Unterkunft bin ich etwas getrennt von den Deutschen“, erklärt Piotr, „aber wo jemand wohnt, hängt ab von der materiellen Situation“, und so wird er dort noch ein wenig wohnen bleiben. Die deutschen Studentinnen und Studenten trifft er im Hotel und im Kino, also in der Universität, und auf Festen. „Wenn es eine Fete gibt, werden auch Polen eingeladen“, erzählt er und: „Ich schätze, die Begegnungen sind in Ordnung.“

„An den Wochenenden bleiben die Wessis hier und die Polen. So haben wir uns kennengelernt“, erzählt Barbara. Gegen Markus, der schon deswegen immer nach Hause fährt, „weil ich dort meine Dinge zu laufen habe“, sagt sie, „daß man an den Wochenenden hier schon was machen kann. Zu Anfang sind wir immer rüber zu den Polen und haben dort polnische Feste gefeiert.“

„Eine Insel, wo sich die Vorurteile auflösen“

Es mischt sich nicht, meint Norman, es wächst nicht einfach so zusammen, findet Markus, aber nichts anderes passiert hier in Frankfurt/Oder. Sie studieren miteinander, sie essen miteinander, sie rudern miteinander und – vor allem – sie sprechen miteinander. Nicht nur die Ostler und die Westler, auch die Polen. Ganz schlicht, ohne großen Pathos, aber mit viel Interesse, gehen die verschiedenen Gruppen aufeinander zu. „Wenn ich hierher komme, will ich deutsch lernen“, sagt Agnieszka, „aber auch die Mentalität will ich kennenlernen“. Sie kommen ohne die großen Begriffe der Völkerverständigung und der Brückenfunktion aus. Sie überqueren die Oderbrücke und sind ein wenig stolz, zur „ersten Generation“ an der Viadrina zu gehören. „Man ist nicht einer von zehntausend“, meint Barbara, „wir sind die ersten hier, wir schaffen hier zuallererst die Strukturen.“

In den wenigen Monaten haben die Studenten der Viadrina bereits eine Studentenvertretung und eine Zeitung ins Leben gerufen. Sie haben ihre ersten Scheine gemacht und warten auf die zweite Generation, die mit dem kommenden Wintersemester anfangen wird. Die Gründungsphase der Viadrina geht ihrem Ende entgegen. Grade sind noch einmal vier Professoren ernannt worden. Jetzt gibt es elf, genug für die Wahl der Universitätsgremien. Gründungsrektor Knut Ipsen und seine Crew werden sich zurückziehen, und „die Insel, wo sich die Vorurteile auflösen“ (Barbara), wird sich mit ein wenig Glück zu einer großen Universität entwickeln.

Einigen Ansprüchen will sie noch gerecht werden. Ausländische Professoren sollen berufen und Sprachen erlernt werden. Und wie alle Universitäten will auch die Viadrina Gebäude und Räume. Schon ist der Bauplatz ausgeguckt, jetzt muß nur noch gekauft und gebaut werden. Dann wird das Kino wieder Kino werden und das Hotel wird noch verwaister als bislang leere Zimmer mit Blick auf die Oder anbieten.