Von Stahl und Seiters noch im Amt

■ Anwalt der Eltern des erschossenen RAF-Mitglieds stellt Strafantrag wegen Mordes / Krisensitzung in Bonn, in Schwerin herrschen mal wieder Abwehr und Verdunkelung / Von Stahl markiert Unschuld

Berlin (taz) – Sechs Tage nach der Schießerei auf dem Bahnhof in Bad Kleinen (Mecklenburg-Vorpommern), bei der das RAF-Mitglied Wolfgang Grams und ein GSG-9-Beamter erschossen sowie die der RAF-Kommandoebene zugerechnete Birgit Hogefeld festgenommen wurden, bleiben wesentliche Umstände der Aktion weiter im dunkeln. Der Anwalt der Eltern des getöteten Grams hat gestern Anzeige gegen Unbekannt wegen Mordes beziehungsweise Totschlags erstattet. Andreas Groß begründete den Schritt mit der eidesstattlichen Aussage einer Augenzeugin und dem ersten Obduktionsergebnis des Leichnams von Wolfgang Grams. Nach einem Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Lübeck stehe fest, „daß die tödliche Kopfverletzung von Wolfgang Grams durch einen Aufsetzschuß oder durch einen Schuß aus unmittelbarer Nähe in die rechte Schläfe erfolgt ist“. Die Augenzeugin hatte bereits vorgestern berichtet, Grams sei reglos am Boden liegend von einem Polizisten aus nächster Nähe erschossen worden. Das Ergebnis der ersten Obduktion wird nach Groß' Angaben auch durch ein zweites Gutachten bestätigt.

Wie die Staatsanwaltschaft in Schwerin erklärte, will ein anderer Zeuge dagegen beobachtet haben, wie Beamte auf den auf dem Gleis liegenden Grams zugegangen seien und ihm die Waffe aus der Hand genommen hätten. Die Schweriner Staatsanwaltschaft ermittelt auch in die Richtung, ob Grams sich selbst getötet hat.

Innen- und Rechtsausschuß des Bundestages kamen gestern zu einer Sondersitzung zusammen. Vor Beginn der Sitzung sagte der Vorsitzende des Innenausschusses, Hans Gottfried Bernrath (SPD), in Bad Kleinen sei auch ein Mitglied der Bundesanwaltschaft anwesend gewesen. Der SPD-Abgeordnete Günter Graf erklärte, wenn alle in den Medien erhobenen Vorwürfe zuträfen, müsse Innenminister Seiters die politische Verantwortung übernehmen, vor allem aber Generalbundesanwalt von Stahl. An der Sitzung nahmen Seiters, Justizministerin Leutheusser- Schnarrenberger (FDP), von Stahl und ein Vertreter des Bundeskriminalamtes teil. Bernrath erklärte weiter, inzwischen sei sogar unsicher, ob Grams selbst bewaffnet gewesen sei. Aufschluß verlangt er ferner darüber, wo das Geschoß geblieben ist, das den GSG-9-Beamten tödlich traf. Seiters sei von dem Einsatz auch vorab informiert gewesen.

Wie das Innenministerium erklärte, haben alle sechs an der Aktion in Bad Kleinen beteiligten GSG-9-Beamten bestritten, den am Boden liegenden Wolfgang Grams erschossen zu haben. Die geringste Schußentfernung habe etwa 1,50 Meter betragen. Nach der Befragung der Beamten gebe es allerdings auch „keine Anhaltspunkte für eine Selbstmordversion“. Zur Klärung des Sachverhalts will Innenminister Seiters einen unabhängigen Juristen einschalten. Grams und der ebenfalls getötete 25jährige GSG-9-Beamte wurden gestern beerdigt.

Wie in den vergangenen Tagen war auch gestern bei den Sicherheitsbehörden keine Stellungnahme zu Berichten zu bekommen, wonach bei dem Treffen zwischen Grams und Hogefeld eine dritte Person, möglicherweise ein verdeckter Ermittler der Polizei anwesend war. Eingeräumt wurde aber, daß die Festnahme der beiden mutmaßlichen RAF-Mitglieder lange geplant worden war. Um so erstaunlicher sei, wie „dilettantisch“ die Bundesanwaltschaft vorgegangen sei und „Fehler in Serie“ produziert habe. In Kreisen der Sicherheitsbehörden wird nun davon ausgegangen, daß die sogenannte „Kinkel-Initiative“ zur vorzeitigen Haftentlassung einzelner RAF-Gefangener vollständig gescheitert ist. wg Seiten 3 und 10