Nachschlag

■ Tanz im Tanzhaus

Es sind 16 Notenständer im Raum, die Notenblätter dem Publikum zugewandt. Fünf rote Plastikstühle stehen im Türrahmen zum Hinterzimmer – von der Sorte, die sich verbiegt, wenn man sich setzt. Auf dem Boden ein Fernsehgerät. Unablässig flimmert der Bildschirm. Daneben spielt ein Ghettoblaster Callas- und Caruso-Arien. All das ist so unendlich weit weg vom Publikum, daß die Szene einer anderen Welt zugehörig erscheint. Eine dünne, hochgewachsene Frau zieht langsam und sehr aufrecht ihre Linien durch den Raum, reproduziert Bewegungsabläufe ein ums andere Mal, im präsentesten Moment immer um die eigene Achse. Sex: intellektuell seziert; auf die wichtigen Körperteile weist marionettenhaft die Hand. „It's a Play“, nennt Lindy Annis ihre Minimalbeschreibung einer Beziehung zwischen „He“ und „She“. Mit präziser Beobachtungsgabe filterte Annis die Essenz unzähliger Beziehungen heraus: „Woman walks in city, man sees her, falls in love with her, follows her.“ Was dann folgt, Annähern, Erkunden des Besonderen und des Gemeinsamen – es findet keine Gnade: „She says, it's a nice place. He says, would you like something to drink. She says, He says, She says“, das ist alles, was vom Reiz des „Neuen“ bleibt. Die „bewegte Lesung“, wie sie von Lindy Annis selbst bezeichnet wird, enthält graue Großstadtszenen der Einsamkeit, die sie mit unbeteiligter Stimme manchmal fast zu genau beschreibt und „nachstellt“, in einem unglücklichen Bewegungsballett: ein Beine-Übereinanderschlagen, ein Hände-auf's-Knie-legen und Händekreuzen, ein Kopfdrehen und die Beine fein säuberlich nebeneinanderstellen, immerfort. „She“ beschließt, „He“ nicht mehr zu sehen, läßt sich die Haare schneiden und – sieht endlich auch eine bunte Welt: unzählige Farben unzähliger Autos. Es ist der einzige Moment der Lesung, wo Bewegung tatsächlich mit einem gewissen Tempo korrespondiert. Doch Lindy Annis Füße haben kein Ziel, die Autos, von denen die Rede ist, versperren sich den Weg, verkeilen sich kreuz und quer. „No exit“ signalisiert sie – und weist den Zuschauern den Weg hinaus aus dem Tanzhaus.

Es war die zweitletzte Aufführung der Veranstaltungsserie des Tanzhauses. Für zwei Monate war es in den Hackeschen Höfen beheimatet, 34 Tanzveranstaltungen unterschiedlichster Tanzstile und unterschiedlichster Qualität wurden aufgeführt. Schade, daß es die Potsdamer Gruppe „Fulcrum“ (mit Unterstützung aus Amsterdam) war, die mit ihrem „Schwingspiel“ den Abschluß der Reihe bildete. Meist nämlich kam die fünfköpfige Gruppe nicht über eine Workshop-Atmosphäre hinaus, obwohl ihre Idee so schön war: Zwei Schaukeln, in fliegendem Wechsel besetzt, schwingen im Raum, schlingern, verpassen sich um Millimeter. Gerettet wird der Abend jedoch durch die Performance von Marc Bogarts, der eine madonnenhafte Nackte in eine mittelalterliche Foltermaschine gezwängt hat. Zu gregorianisch anmutenden Frauengesängen wird der erste Gesetzestext Deutschlands zum Paragraphen 218 verlesen. Ein roter Ball rollt in einen Eimer, das Fallbeil schwingt über dem Kopf der Frau. Petra Brändle