■ Seiters übernahm die Verantwortung für den GSG-9-Mord
: Den Rücktritt als Chance begreifen

Nach der Serie von bösen Überraschungen, welche die Schießerei in Bad Kleinen am vergangenen Sonntag nach sich gezogen hatte, folgte gestern um 17 Uhr 15 eine gute. Rudolf Seiters übernahm die politische Verantwortung für den Mord an Wolfgang Grams und die staatliche Desinformationspolitik. Er trat von seinem Amt als Bundesinnenminister zurück. Helmut Kohl, der Meister im Aussitzen von Skandalen aller Art, hatte den für ihn nahezu unverzichtbaren Minister noch zum Durchhalten überreden wollen, doch dieser folgte seinem Chef ausnahmsweise nicht. Der Rücktritt von Rudolf Seiters war überraschend, aber ebenso unabdingbar, denn bei dem Mord von Bad Kleinen handelt es sich um ein Verbrechen, das in der deutschen Nachkriegsgeschichte ohne Beispiel ist. Besonders unerträglich war es zu beobachten, wie alle Beteiligten hinterher nur eines im Sinn hatten: das Geschehene zu vertuschen, es ungeschehen zu machen.

Hierbei tat sich Generalbundesanwalt Alexander von Stahl noch wesentlich penetranter hervor als Rudolf Seiters. Von Stahl mutierte im Laufe der letzten Woche vom obersten Ankläger zum obersten Vertuscher der Republik. Darüber kann auch sein Versuch, die Verantwortung dem Bundeskriminalamt und dessen Dienstherren Rudolf Seiters in die Schuhe zu schieben, nicht hinwegtäuschen. Die von ihm aus „fahndungstechnischen Gründen“ verhängte Nachrichtensperre diente nur dem Ziel, das wahre Ausmaß des desaströsen Polizeieinsatzes zu verschleiern. Deshalb muß an dieser Stelle einmal mehr die monotone Forderung nach dem Rücktritt des Generalbundesanwalts erhoben werden.

Bis zum Rücktritt Seiters' erschien es zwangsläufig, daß die Konfrontation zwischen RAF und Staat wieder eskalieren würde. Die Untergrundkämpfer der RAF haben im letzten Jahr zwar noch erklärt, künftig auf Attentate gegen führende Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft verzichten zu wollen. Diese Erklärung jedoch erschien nach der Bad Kleiner Exekution hinfällig zu sein. Schon in ihrer ersten „Deeskalationserklärung“ vom 10. April vergangenen Jahres hatten die Aktiven der RAF an die Adresse der Politiker geschrieben: „wenn sie uns (...) nicht leben lassen, dann müssen sie wissen, daß ihre eliten auch nicht leben können“.

Nachdem die Bundesregierung, respektive Rudolf Seiters, einen ebenso überraschenden wie deeskalierenden Schritt getan hat, ist es jetzt an der RAF, nicht nach den altbekannten Mustern unnachgiebiger Vergeltung zu agieren. Trotz der Wut und Trauer über den Tod einer der ihren wäre es zu einfach, die überfällige Diskussion über das eigene Selbstverständnis und das Scheitern der Strategie des bewaffneten Kampfes abzubrechen. Ironischerweise eröffnete ein Innenminister, der immer die harte Linie gegen die RAF propagiert hat, mit seinem Rücktritt der RAF die Chance, nicht mehr nur mechanisch auf die staatlichen Aktionen zu reagieren. Die Möglichkeiten, für den 23 Jahre währenden nicht erklärten Bürgerkrieg eine politische Lösung zu finden, müssen jetzt genutzt werden. Der Antiterror-Apparat hat postwendend nach den Morden von Bad Kleinen die Sicherheitsmaßnahmen bei führenden Repräsentanten des Staates verstärkt. Wenn die RAF die Chance der Stunde erkennt und von Stahl zu den nötigen Konsequenzen gebracht würde, wäre die Abschaffung der Hochsicherheitstrakte für die RAF, aber auch deren mobile Pendants für Politiker und Industrielle, denkbar. Michael Sontheimer