■ Ein einmaliges Verbrechen wird weiter amtlich vertuscht
: Künstlich verlängerte Konfrontation

Wäre die Bundesrepublik Deutschland ein funktionierender Rechtsstaat, müßte der mörderische Polizeieinsatz auf dem Bahnhof in Bad Kleinen Generalbundesanwalt von Stahl oder Innenminister Seiters das Amt kosten. Von Stahl mutierte im Laufe der letzten Woche vom obersten Ankläger zum obersten Vertuscher der Republik. Darüber kann auch sein Versuch, die Verantwortung dem Bundeskriminalamt und dessen Dienstherren Rudolf Seiters in die Schuhe zu schieben, nicht hinwegtäuschen. Die von ihm aus „fahndungstechnischen Gründen“ verhängte Nachrichtensperre diente nur dem Ziel, das wahre Ausmaß des desaströsen Polizeieinsatzes zu verschleiern.

Noch sind die Vorgänge in Bad Kleinen nicht restlos aufgeklärt. Doch dürfte es niemanden mehr überraschen, wenn sich nun noch herausstellen sollte, daß der GSG-9-Beamte auch durch Schüsse aus der Waffe eines Kollegen verletzt wurde. Unzweifelhaft ist mittlerweile aber, daß die Erschießung des mutmaßlichen RAF-Mitglieds Wolfgang Grams einer Hinrichtung gleichkam. Dies ist ein einmaliges Verbrechen in der deutschen Nachkriegsgeschichte, für das Bundesinnenminister Seiters die politische Verantwortung trägt. Über das eigentliche Geschehen hinaus gewinnen die Vorgänge in Bad Kleinen aber auch dadurch politische Brisanz, daß alle Beteiligten hinterher nur eines im Sinn hatten: das Geschehene zu vertuschen, es ungeschehen zu machen. Bleiben von Stahl und Seiters im Amt, wird dieses Verhalten nachträglich auch noch legitimiert.

Dem Bundesinnenminister und dem Bundesstaatsanwalt gebührt nun das zweifelhafte Verdienst, freiwillig oder unfreiwillig als diejenigen in die Geschichte einzugehen, die die Konfrontation zwischen RAF und Staat künstlich verlängert haben. Die Untergrundkämpfer der RAF haben im letzten Jahr zwar noch erklärt, künftig auf Attentate gegen führende Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft verzichten zu wollen. Diese Erklärung dürfte nach der Bad Kleiner Exekution nun aber hinfällig sein. Schon in ihrer ersten „Deeskalationserklärung“ vom 10. April vergangenen Jahres hatten die Aktiven der RAF an die Adresse der Politiker geschrieben: „wenn sie uns (...) nicht leben lassen, dann müssen sie wissen, daß ihre eliten auch nicht leben können“. Zu glauben, die RAF werde den Tod eines ihrer Mitglieder als Fahndungspanne hinnehmen und weiterhin auf Attentate verzichten, um damit die staatlichen Institutionen als die Eskalierer der Stunde zu entlarven, hat etwas Verführerisches – ist aber leider wohl unrealistisch. Die tödlichen Schüsse auf dem Bahnhofsgelände werfen die RAF-interne Debatte um eine Neubestimmung ihrer politischen Ziele auf einen Stand zurück, auf dem die weiteren Aktivitäten der RAF nahezu ausschließlich durch das Agieren des Staates bestimmt werden. Der anachronistische Guerillakrieg droht weiterzugehen. Das wissen auch die Sicherheitsbehörden, die postwendend nach dem Mord von Bad Kleinen die Sicherheitsmaßnahmen bei führenden Repräsentanten des Staates verschärft haben. Wolfgang Gast