■ Berlinalien
: Der Bürgersteig wird hochgeklappt

In Berlin, so machen die zahllosen Hochglanzbroschüren den auswärtigen Besucher glauben, sei des Nachts sprichwörtlich der Bär los. Hier kann in Kneipen und Restaurants getrunken und gespeist werden, bis der Morgen anbricht. Wo in München oder Köln um ein Uhr die Rolläden heruntergelassen werden, da darf in Berlin munter weitergezecht werden. Soweit stimmt das Bild. Eigentlich.

Doch in der neuen Hauptstadt, die noch lange keine ist, droht die finstere Provinz einzuziehen. Denn, so schlugen die hiesigen Gastronomen letzte Woche Alarm, „Provinzialität“ und „behördliche Kleinkariertheit“ drohten die urbane Lebensqualität „zu zermalmen“.

Der Aufschrei kam gerade zur rechten Zeit. Denn nicht nur nörgelnde Bonner Beamte, auch die Touristen bleiben immer häufiger der Drei-Millionen-Metropole fern. Seit längerem klagen Hotels über mangelnde Buchungen, verzeichnet die Gastronomie gegenüber dem Vorjahr gar Einnahmeverluste von bis zu dreißig Prozent. Und mitten in das allgemeine Lamento platzt nun auch noch dies: Die polizeiliche Sperrstunde wird auch an der Spree Realität. Zumindest für all jene Kneipen und Restaurants, die unter freiem Himmel bedienen.

Vielerorts ist unbekannt, daß die vielgerühmte Berliner Sperrstunde von fünf bis sechs Uhr morgens, einst von den Alliierten dankenswerterweise verordnet, nur für Innenräume gilt. Anders sieht es auf dem sogenannten öffentlichen Straßenland aus. Den „Gartenlokalen“ verordnen die Wirtschaftsämter in den 23 Berliner Bezirken immer häufiger den Zapfenstreich – für 22 Uhr. Dem Präsidenten der Hotel- und Gaststätteninnung von Berlin und Brandenburg, Michael Wegner, stinkt das. Immerhin sind laut seiner Innung 95 Prozent der 1.100 Gaststätten betroffen, die auf genehmigungspflichtigem öffentlichem Straßenland Kir und Korn servieren.

Bei Neuanmeldungen hat Liberalität fast keine Chance mehr, und selbst alteingesessene Kneipiers haben schwer zu kämpfen. Oftmals reicht nur die Beschwerde eines einzelnen Anwohners aus, um die lustfeindliche Maschinerie in Gang zu setzen. Stellt nämlich die vom Bezirk mit Messungen beauftragte Senatsumweltverwaltung einen unzumutbaren Lärmpegel fest, droht der Konzessionsentzug für den Ausschank unter freiem Himmel.

Ideologische Scheuklappen kennen die neuen Sittenwächter nicht. Betroffen sind sowohl gutbürgerliche Kneipen etwa im Nicolai-Viertel in Mitte wie Szenelokale rund um den Schöneberger Winterfeldplatz.

Für die Berlin-Besucher, die sich im Sommer auf einen lauen Abend bei Wein oder Bier freuen, sei geraten: rechtzeitig im Gartenlokal erscheinen und sich vorab auf eine Fertigkeit einstellen, die Münchener oder Kölner schon lange beherrschen: Schneller trinken! Bis 22 Uhr sollte das doch zu schaffen sein. Severin Weiland