: Keiner hinderte die Brandstifter von Sivas
Nach den blutigen Übergriffen islamischer Fundamentalisten gegen kritische Intellektuelle, bei denen am Freitag abend 35 Menschen in den Flammen eines brennenden Hotels umkamen, herrscht im türkischen Sivas Ausgangssperre.
„Der Staat hat beim Massaker zugeschaut“, titelte die Tageszeitung Aydinlik am Tag nach dem Inferno in Sivas. 35 Menschen waren am Freitag abend in der zentralanatolischen Stadt ums Leben gekommen, als islamische Fundamentalisten das Hotel anzündeten, in dem Besucher des Kulturfestivals progressiver Moslems, unter ihnen der Schriftsteller und Islamkritiker Aziz Nesin, untergebracht waren. Cetin Turan vom Vorstand der Anwaltskammer in Izmir kritisierte die „Verantwortungslosigkeit der Politiker“. Sie hätten zugelassen, daß „vor den Augen aller ein Massaker angerichtet wurde. Der Innenminister hat noch nicht einmal dagegen protestiert“. Akin Birdal, Vorsitzender des türkischen Menschenrechtsvereins, sprach von einem „organisierten Angriff, der von seiten der Staatsgewalt nicht verhindert worden ist: ein Angriff auf die Meinungsfreiheit, auf die Kulturfreiheit und auf den laizistischen Gedanken – mit dem Ziel, eine primitive, reaktionäre Ordnung zu errichten.“
Während die Spitzen der türkischen Politik ihre Beileidsbekundungen für die Angehörigen der Opfer formulieren und ankündigen, daß die Verantwortlichen für den Brandanschlag auf das Hotel Madimak vor Gericht gestellt werden, haben erste Ermittlungen gezeigt, wie schlampig die politisch Verantwortlichen bei den Ereignissen in Sivas offenbar vorgegangen sind. Obwohl der Gouverneur von Sivas noch während der Fundamentalisten-Demonstration am Freitag nachmittag bei der Regierung in Ankara um Verstärkung nachgesucht hatte, wurde seiner dringenden Forderung zunächst nicht entsprochen. Obwohl sich Mord und Terror geradezu ankündigten und in Flugblättern zum „Heiligen Krieg“ gegen die Ungläubigen um Aziz Nesin aufgerufen wurde, reagierten man in der Hauptstadt gelassen.
Zielscheibe der Kritik ist nun vor allem der neue Innenminister Mehmet Gazioglu, der in der Nacht von Freitag auf Samstag von einer „aufgebrachten Menge“ sprach, die von dem Schriftsteller Aziz Nesin „provoziert“ worden sei. Auch für den Vorsitzenden der fundamentalistischen Wohlfahrtspartei, Necmettin Erbakan, stand der eigentlich Schuldige sogleich fest: „Zu den Ereignissen ist es gekommen, weil eine bestimmte Gruppe in unhöflicher Weise über den Glauben der Nation gesprochen hat.“
Der stellvertretende Ministerpräsident Erdal Inönü, mehrere Minister sowie Generalstabschef Dogan Güres reisten am Samstag nach Sivas. „Die Fundamentalisten sind für das, was in Sivas geschehen ist, verantwortlich“, sagte Inönü auf einer Pressekonferenz vor Ort. „Durch die Reaktion der Fundamentalisten wird die laizistische Verfaßtheit unseres Landes aber keineswegs ausgehöhlt. Die Prinzipien der Republik, die laizistische Ordnung und das Recht auf freie Meinungsäußerung, werden Bestand haben.“
Was genau hatte sich in Sivas abgespielt? Nachdem Aziz Nesin am Vortag öffentlich die Authentizität des Koran und die Autorität des Propheten Mohammed in Frage gestellt hatte, waren am Freitag islamisch-fundamentalistische Fanatiker mit Steinen und Stöcken gegen Gäste des Pir Sultan Abdal Kulturfestivals vorgegangen. Vor dem Hotel Madimak forderten Tausende den Kopf des 78jährigen Schriftstellers und Mitherausgebers von Aydinlik, Aziz Nesin. Die Chefredaktion der Zeitung forderte in Eiltelefonaten verantwortliche Politiker und Sicherheitskräfte auf, Maßnahmen zum Schutz der Bedrohten zu ergreifen und gegen die gewalttätigen Demonstranten vorzugehen. Sie erreichten sogar den türkischen Staatspräsidenten Süleyman Demirel: „Übertreibt nicht. Polizei und Militär haben alles unter Kontrolle. Wir möchten die Sicherheitskräfte und das Volk nicht gegeneinander aufbringen“, beschwichtigte Demirel.
Nur eine halbe Stunde später ging das Hotel Madimak in Flammen auf. 35 Menschen, unter ihnen bekannte Künstler, Literaten, Verleger und Sänger verbrannten bei lebendigem Leib oder kamen durch Rauchvergiftungen ums Leben. Über 60 Menschen wurden zum Teil schwerverletzt in die Krankenhäuser der 800.000 Einwohner zählenden Stadt eingeliefert. Schon am Nachmittag, nach dem Freitagsgebet, hatte sich die Menge vor der Präfektur der Stadt versammelt. „Tod dem Teufel Aziz Nesin“, „Nieder mit der Regierung“, skandierten die Demonstranten, die auch eine US-Flagge verbrannten. Von der Präfektur zogen sie anschließend zum Kulturzentrum, wo die Veranstaltungen im Rahmen des Pir Sultan Abdal Festivals stattfanden. Dort wurde eine Plastik zu Ehren des Sivaser Volksdichters Pir Sultan Abdal geschliffen. Auch ein Denkmal des Gründers der türkischen Republik, Mustafa Kemal, mußte dran glauben. Schließlich belagerten die Fundamentalisten das Hotel Madimak, wo sich prominente Gäste des Festivals in Sicherheit glaubten.
Fernsehbilder belegen, wie die Brandstifter ungehindert ins Hotel eindringen und unter dem Jubel von Tausenden Demonstranten Feuer legen konnten – während die Polizei zuschaute. Die Feuerwehr konnte aufgrund der Blockade nicht zum Hotel vordringen. Erst nach dem Feuer wurden die Sicherheitskräfte aktiv, feuerten in die Luft und versuchten, die Menge auseinanderzutreiben. Aziz Nesin, der eine Rauchvergiftung erlitt, wurde von Polizisten über eine Treppe der Feuerwehr gerettet.
Nachdem das Feuer das Hotel zerstörte hatte, wurde in Sivas eine Ausgangssperre verhängt. Aus den umliegenden Regionen wurden Polizei- und Armee-Einheiten nach Sivas geschickt; nach Angaben des türkischen Innenministers sind inzwischen 35 Personen festgenommen worden. Der stellvertretende Ministerpräsident Inönü bestätigte gegenüber Journalisten, daß auch gegen den Bürgermeister von Sivas, Temel Karamollaoglu, Ermittlungen in Gang sind. Karamollaoglu, Mitglied der fundamentalistischen Wohlfahrtspartei, hatte am Freitag mehrfach zu der Menge gesprochen und für seinen tätlichen Angriff gegen Aziz Nesin Beifall geerntet.
Der Schriftsteller Aziz Nesin ist seit Monaten Hauptzielscheibe der islamischen Fundamentalisten. Nesins Tageszeitung Aydinlik hatte im Mai trotz mehrjährigen Verbots Auszüge aus den „Satanischen Versen“ von Salman Rushdie publiziert. Auf einer Podiumsdiskussion im Rahmen des Kulturfestivals hatte er sich erneut zum Atheismus bekannt. „Warum soll ich glauben, was im über tausendjährigen Koran drinsteht“, erklärte Nesin. Schon Tage zuvor hatten islamische Fundamentalisten ein Flugblatt in Umlauf gebracht, mit dem sie zum Mord an Aziz Nesin aufriefen. „Es ist der Tag der Abrechnung. Die Ungläubigen sollen wissen: um die Ehre des Propheten und des heiligen Buches zu retten, werden wir unser Leben geben.“
Auch das Pir Sultan Abdal Kulturfestival, das in diesem Jahr erstmalig in Sivas stattfand, war den Fundamentalisten ein Dorn im Auge. Pir Sultan Abdal, ein Volksdichter des 16. Jahrhunderts, wird von den Alawiten, den türkischen Schiiten, verehrt. Pir Sultan Abdal, der sich in seinen Gedichten gegen Verfolgung und Unterdrückung wandte, wurde auf Befehl des osmanischen Sultans in Sivas hingerichtet. In Sivas leben sowohl sunnitische als auch alawitische Moslems. Ende der siebziger Jahre war es bereits zu bewaffneten Übergriffen von sunnitischen Extremisten gegen die Alawiten gekommen, die damals von der faschistischen „Nationalen Aktionspartei“ organisiert wurden.
Diesmal richtete sich die Gewalt gegen die Intellektuellen, die zum Kulturfestival angereist waren. Unter den Toten sind bekannte Literaten und Künstler. Der 76jährige Asim Bezirci, der in den Flammen verbrannte, war einer der bekanntesten Literaturkritiker in der Türkei. Er veröffentlichte unzählige Bücher, unter anderem zu den Gedichten des bekannten kommunistischen Dichters Nazim Hikmet. Der 44jährige Behcet Aysan war ein mehrfach ausgezeichneter Vertreter türkischer Gegenwartslyrik. Der 36jährige Musiker Hasret Gültekin ist bekannt durch zahlreiche Konzerte und Fernsehauftritte. Als einer der ersten hatte er das Verbot, kurdische Musik zu spielen, mit seiner Kassette „Die Nacht ist zwischen zwei Tagen“ unterlaufen. Ömer Erzeren, Istanbul
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