Arsch oder Europameister?

Sensationellerweise gewinnen die deutschen Basketballer den Titel 71:70 gegen Rußland, und Christian Welp macht sich seine Gedanken  ■ Aus München Holger Gertz

Man müßte Momente wie diesen irgendwie festhalten können, um der Nachwelt einen Eindruck davon zu vermitteln, was Spannung ist, was Dramatik. Der letzte Punkt entscheidet: Christian Welp steht auf dem Parkett, der Schiedsrichter reicht ihm den Basketball, Welp läßt ihn dreimal aufprallen, atmet noch einmal tief durch und schickt ihn auf den Weg. Die Stille in der Halle wandelt sich in ein Tosen, als der Ball durch den Korb fällt. 71:70 gegen die russische Mannschaft, Deutschland ist Europameister im Basketball.

Die Rekonstruktion des Dramas, der Ausgangspunkt liegt drei Minuten vor Schluß: Es steht 68:63 für die Russen, die deutsche Mannschaft hat einen Vorsprung verspielt, der in der ersten Halbzeit schon einmal 13 Punkte betragen hatte. Die Freiwürfe, im Halbfinale gegen Griechenland noch fast immer sicher verwandelt, gehen nicht rein; die Trefferquote: 43 Prozent, die Russen schaffen 70 Prozent. 68:63 also, Michailow wirft, der Brall prallt vom Ring zurück, seine erste fatale Aktion in dieser Nacht. Danach trifft Nürnberger, er trifft trotz Fouls eines Russen und versenkt auch den Bonuswurf. 68:66, Rußlands Spielmacher Bazarewitch scheitert, Welp pflückt den Ball, weiter zu Nürnberger, der macht ihn rein. 68:68, Zeit zum Durchatmen.

Kein deutscher Spieler hat sich bei der EM so gesteigert wie der Bamberger Spielmacher Nürnberger. Ein Mitläufer ist er früher gewesen, nicht athletisch genug für die ganz große Karriere. Unheimlich hart habe er gearbeitet an sich, sagt Bundestrainer Pesic. Und das hat sich ausgezahlt. Hervorragend spielte er in allen Endrundenspielen, treffsicher war er auch von der Drei-Meter-Linie. Im Finale hat er neun der ersten 13 deutschen Punkte gemacht, danach die fünf zum Gleichstand wenige Minuten vor Schluß. Nur ein Versuch im ganzen Spiel saß nicht.

Es ist heiß in der Halle, der Ball ist rutschig vom Schweiß und läßt sich schwer kontrollieren. Und nervös sind die Spieler, auch die Russen, bei denen viele noch keine 24 Jahre alt sind. Die Konzentration läßt nach, bei allen. Noch 25 Sekunden, da holt sich Rödl den Ball am eigenen Brett und gibt ihn weiter an Mike Jackel, den alten Mann im deutschen Team. Eigentlich müßte der genug Ruhe haben unter dem Korb, auch in dramatischen Situationen wie diesen, aber der Ball prallt vom Ring zurück und hinterläßt 10.000 vor Schreck starre Zuschauer.

Jetzt haben die Russen den Ball, jetzt werden sie die Zeit ausspielen und kurz vor Ende versuchen, den entscheidenden Ball zu werfen. Die deutsche Mannschaft kann nur ein taktisches Foul begehen und hoffen, daß die Russen verwerfen und sie dann selbst wieder den Ball kriegen. Harnisch rempelt Babkow, weil dem die Nerven geflattert haben in den letzten Minuten. Jetzt flattern sie nicht. Obwohl sich hinter dem Korb eine Wand aus schreienden, pfeifenden, irritierenden Menschen aufgebaut hat. Babkow trifft zweimal. Es steht 70:68. Noch 15 Sekunden.

Er habe, erzählt Rußlands Trainer Juri Selikow, seinen Spielern gesagt, sie sollten in so einer Situation notfalls zwei Punkte des Gegners hinnehmen, aber den Gegner bloß nicht foulen, bloß keinen Bonuswurf riskieren. „Aber sie sind jung, sie haben keine Erfahrung.“ Wieder ist es Kai Nürnberger, der den Ball nach vorn bringt, der zwei Gegner auf sich zieht. Welp ist frei und macht den Korb, obwohl Michailow ihn regelwidrig angeht. 70:70 und Bonuswurf für Deutschland. Die zweite fatale Aktion des Michail Michailow.

Auszeit, noch drei Sekunden. Christian Welp ist wieder dran. Aber es ist nicht so wie im Viertelfinale gegen Spanien. Da hat er das Ding drei Sekunden vor Schluß gekriegt und reingeworfen; zum Grübeln blieb keine Zeit. Jetzt hat er Zeit. Was mag er denken, bevor er zur Ausführung schreitet, bevor ihm der Schiedsrichter den Ball reicht, bevor er ihn fünfmal aufprallen läßt, durchatmet und wirft und trifft zum 71:70? Bevor er sich und sein Team zum Europameister macht; ein Erfolg der in die Historie des deutschen Sports eingehen wird? Was hat er gedacht?

Christian Welp ist auch vor dem größten Wurf seiner Karriere so geblieben, wie er immer ist: gelassen. „Wenn du vorbeiwirfst, bist du der Arsch“, sei ihm durch den Kopf gegangen. „Aber wenn du triffst, bist du Europameister.“