Die Banalität des Guten

Der Literaturwissenschaftler Tzvetan Todorov versucht, mit Blick auf die Schädelstätten der Moral, die Lager, Ghettos, Schlachtfelder, eine neue Moral zu begründen – und scheitert  ■ Von Reiner Ansén

Erzählendes Denken

Der Literaturtheoretiker und Essayist Tzvetan Todorov ist bei uns vor allem durch sein Buch „Die Eroberung Amerikas“ bekannt geworden. Die Faszinaton und die Schönheit dieses Buches verdankt sich nicht zuletzt dem eigenartigen Genre, das Todorov für sein Thema gewählt hatte und das er pensée narrative, erzählendes Denken nennt. Eine weitere eindrucksvolle Manifestation dieses Genres ist sein neues Buch „Angesichts des Äußersten“, das der Frage nach der Moral im 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Ghettos, der Kriege und der Lager, nachgeht, und zwar nicht auf der Suche nach einer historischen Wahrheit, sondern nach dem Fundament für eine mögliche Alltagsmoral.

Todorovs Buch bietet dabei – jedenfalls der erklärten Absicht nach – keine Moraltheorie. Es hat mit dem akademischen Ethik-Diskurs unserer Gegenwart nichts zu tun, und es ignoriert auch vollständig die lange Tradition der europäischen Moralphilosophie; ebenso die historischen, psychologischen oder soziologischen Analysen seines direkten Gegenstandes: des Verhaltens von Individuen unter den extremen Bedingungen des Lagers.

Eine solche demonstrative Theorieabstinenz ist riskant und attraktiv zugleich. Auch ein „erzählendes Denken“ kommt nicht ohne Begriffe, ja einen ganzen theoretischen Rahmen aus, und wenn es diesen vernachlässigt, riskiert es, seinen Gegenstand bis zur Unerträglichkeit zu entstellen und zu vereinfachen. In solcher Vereinfachung liegt ein Teil der Attraktivität des „erzählenden Denkens“, wie Todorov es hier praktiziert. Sie führt nämlich dazu, daß das Buch ein „bewegendes Buch“ wird, wie es in der deutschen Verlagswerbung heißt. Im Prinzip ist ja auch nichts dagegen einzuwenden, wenn ein Buch über einen bewegenden Gegenstand eine bewegendes Buch ist – solange Darstellung und Verständnis des Gegenstandes nicht darunter zu leiden haben.

Was die Moral angeht, so ist ja die Auffassung weit verbreitet, hier genüge im Grunde die Intuition. Gerade in Zeiten der Unübersichtlichkeit wird der Versuch, eine Alltagsmoral gewissermaßen anschaulich und unmittelbar ergreifend zu begründen, auf erhöhtes Interesse stoßen; dieses Interesse macht es um so wichtiger, auf die enormen Schwächen von Todorovs Versuch hinzuweisen.

Will man herausfinden, welches der unabdingbare Kern der alltäglichen Moral ist, das heißt des individuellen moralischen Handelns, dann muß man eine Situation betrachten, in der dieses alltägliche moralische Handeln der größtmöglichen Bedrohung ausgesetzt ist.

Extrem und Kontinuität

An der Stärke des Widerstandes mißt sich die Stärke der Moral oder des Guten. Zweitens muß man nach Voraussetzungen und Formen dieses Widerstandes fragen, denn ohne eine Erkenntnis des Bösen läßt sich keine des Guten gewinnen. Drittens schließlich muß man nach unserer Reaktion auf das Böse fragen, denn nur hier sind wir moralisch gefordert. Soll die Beantwortung dieser Fragen für unsere heutige Alltagsmoral überhaupt relevant sein, so darf die Extremsituation, in der man wie unter einem Vergrößerungsglas das alltägliche Verhalten als moralisch beziehungsweise unmoralisch betrachtet, in der man nach der deutlichen Inkarnation von Gut und Böse sucht, sich nicht im Wesen von unserem heutigen Alltag unterscheiden. Todorovs Ansatz zwingt also zu der Annahme einer Kontinuität, die sehr weitreichende Folgen hat: Das „Äußerste“, das der Buchtitel nennt, angesichts dessen das Verhalten von Individuen betrachtet wird, ist das periphere Extrem der demokratischen Gesellschaft: „der Totalitarismus“; dessen – nun zentrales – Extrem ist das Konzentrationslager.

Gerade der Totalitarismusbegriff und die mit ihm verbundene Kontinuitätsthese, wie Todorov sie ohne jedes Interesse an einer historischen Reflexion benutzt, werden seit langem mit sehr guten Gründen zurückgewiesen. Selbstverständlich ähneln sich totalitäre Regime auf der ganzen Welt, auch das Nazi-Regime und die östlichen Diktaturen; und selbstverständlich ähneln sich auch Konzentrationslager auf der ganzen Welt. Aber der Punkt ist doch: das, worin sie sich zwangsläufig ähneln (Indoktrination, Kontrolle, Entwürdigung usf.), ist nicht das, was an ihnen entscheidend ist. Wenn Todorov sagt, abgesehen vom Judäozid sind Nazismus und Stalinismus dasselbe, und abgesehen von der Industrialisierung des Mordens gibt es zwischen Auschwitz und dem Gulag keinen Unterschied, dann sagt er eben nichts anderes als: abgesehen vom Wesentlichen sind sie gleich.

Wenn aber in der Logik des Nazismus der totale Krieg und in seinem Wesen der Judäozid lag; wenn Auschwitz keinen anderen Zweck hatte als den Terror und die systematische Ermordung der europäischen Juden, dann waren der Nazismus und Auschwitz etwas anderes als Extreme, die man – einer wissenschaftstheoretischen Tradition nach – benutzen oder konstruieren kann, um das Normale deutlicher zu erkennen. Sie waren wirklich ein Äußerstes, noch jenseits des „normalen“ Totalitarismus und des „normalen“ Lagers. Dieses Äußerste versucht Todorov gar nicht erst in den Blick zu bekommen, und er kann es auch bei seinen Voraussetzungen gar nicht versuchen. Deshalb kann ihm auch nicht klar werden, daß der Nazismus und Auschwitz nicht als „Vergrößerungsgläser“ benutzt werden können, um über das Fundament einer möglichen Alltagsmoral nachzudenken.

Deshalb genügt es auch nicht, wenn Todorov als Vorbedingungen des Bösen (und dieses selbst bleibt ausgespart) den Machtgenuß, die Entpersönlichung und, als wichtigste, die Fragmentierung beschreibt. Das sollen wesentliche Züge der demokratischen Industriegesellschaft überhaupt sein, und sie sind es wahrscheinlich auch. Aber der Totalitarismus ist deshalb noch nicht eine bloße Steigerung dieser Charakteristika, denn das erklärt nicht, weshalb schon weiter industrialisierte Länder wie Großbritannien oder die USA nicht totalitär geworden sind. Und erst recht erklären diese Charakterzüge moderner Individuen nicht Auschwitz.

Die Moral der SS

Es bleibt hier etwas Unerklärliches, das Todorov beiläufig und folgenlos auch zugesteht. Niemand kann aber ausschließen, daß es dieses Sinnlose ist, in dem für uns auf immer der „Sinn“ von Auschwitz bestehen wird. Claude Lanzmann sagt, der Versuch, Auschwitz zu verstehen, sei für ihn ein intellektueller Skandal. Ihm und seinem Film „Shoah“ attestiert Todorov die Moral der SS; ebenso – wenn auch in diesem Fall nicht wörtlich – Hannah Arendt, ihrer Begründung des Eichmann-Urteils wegen. Auch diese Haltung Todorovs ist seiner Kontinuitätsthese geschuldet: Die Rache und der Haß machen uns den Tätern ähnlich und schreiben das Böse in der Welt fort. Hier, in der Reaktion auf das Böse, erscheint das Böse denn auch in Todorovs Buch: als außergeschichtliche Substanz, von der man sich um jeden Preis rein halten muß. Der Haß auf das Böse, der Widerstand gegen es sind von ihm selbst nicht verschieden. Der Aufstand im Warschauer Ghetto ist moralisch gesehen irrelevant, denn er ist Ausdruck nicht einer moralischen, sondern nur einer „heroischen“ Tugend. Die Akte des politschen Widerstandes sind für Todorovs Alltagsmoral ohne Bedeutung, denn in ihnen geht es nur um Gerechtigkeit, nicht um Moral. Lanzmann, der den Personen, die er filmt, mit der Kamera Gewalt antut, tut nichts anderes als der SS- Mann, der sein Opfer zu Tode quält.

Banalität des Guten

Unter den „alltäglichen Tugenden“, die Todorov anhand der Berichte vorführt, ist die zentrale moralische Tugend die „Sorge“, der Akt, der direkt der Hilfe für einen anderen Menschen gilt. Ihn nennt Todorov l'action morale par excellence, und er ist es, der auch für unsere heutige Alltagsmoral den unabdingbaren Kern darstellen soll, offenbar, weil er den Voraussetzungen des Bösen, die Todorov nennt, dem Machtgenuß, der Entpersönlichung und der Fragmentierung am weitesten entgegensteht.

Dieses Resultat hätte man auch leichter gewinnen können, ohne dafür die Berichte von Menschen heranzuziehen, die das KZ überlebt haben oder darin ermordet worden sind. Wenn auch richtig ist, daß vom Standpunkt der Moral nur die Handlungen von Individuen in Betracht kommen, so ist doch nicht richtig, daß moralisch nur die Handlung ist, die sich unmittelbar auf ein anderes Individuum richtet. Und schon gar nicht ist richtig, daß solche Handlungen den Kern einer heutigen Alltagsmoral bilden können. Diese Auffassung von moralischem Handeln ist nicht nur banal, sie ist auch selber, durch die implizierte fein säuberliche Scheidung des Öffentlichen vom Privaten, selber eine weitere Spielart der Fragmentierung, die Todorov für ein Grundübel hält und die seine neue Moral daher zu überwinden hätte. Und was schließlich noch die Moral „angesichts des Äußersten“ angeht, so bleibt es eine Frage der Definition, was man ihr zurechnen will und was nicht. Selbst wenn Akte der offensichtlichen Gewalt immer und unter allen Umständen unmoralisch wären, könnte es sein, daß man das, was eine Alltagsmoral sein könnte, zu allerletzt am wirklich Äußersten klären kann.

Tzvetan Todorov: „Angesichts des Äußersten“. Aus dem Französischen von Wolfgang Heuer und Andreas Knop, Wilhelm Fink Verlag 1993, 380 Seiten, 58 DM