Die Wahrheit hat Verspätung

Zur Aufklärung der GSG-9-Aktion von Bad Kleinen wartete die Öffentlichkeit auch gestern auf einen „lückenlosen und umfassenden Bericht“ des Bundeskriminalamts. Der Stuhl des Generalbundesanwalts von Stahl wackelt inzwischen erheblich.

Nach dem überraschenden Rücktritt von Bundesinnenminister Rudolf Seiters gerät der Generalbundesanwalt zunehmend unter Druck. Die SPD forderte, Alexander von Stahl müsse als Konsequenz aus dem Verwirrspiel im Zusammenhang mit dem mörderischen Polizeieinsatz in Bad Kleinen vom Sonntag letzer Woche zurücktreten. SPD-Sprecherin Cornelie Sonntag: „Die Informationspolitik, die uns von Stahl geboten hat, ist katastrophal.“ Bei der Aufklärung der Vorfälle in Bad Kleinen dürfe es „kein Vertuschen und Vernebeln“ geben. Auch der Geschäftsführer der SPD im Bundestag, Peter Struck, forderte, daß von Stahl aus seinem Amt entfernt wird. An die Adresse der dienstvorgesetzen Ministerin gerichtet erklärte er, sollte von Stahl nicht freiwillig die Konsequenzen ziehen, dann sei Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) als Dienstherrin gefordert.

Die stellvertretende FDP-Vorsitzende, Bundesbauministerin Irmgard Schwaetzer, sah gestern noch keinen Anlaß, den Generalbundesanwalt aus dem Amt zu jagen. Sie hielt es mit der Erklärung, die das FDP-Mitglied von Stahl Ende letzter Woche selbst abgegeben hat: Der Generalbundesanwalt könne nur die Informationen weitergeben, die er vom Bundeskriminalamt (BKA) erhalte. Gegen die Entlassungsforderung verwahrte sich auch FDP-Chef Kinkel: „Alle sollten abwarten, wie die Ermittlungsergebnisse sind.“ Der stellvertretende Vorsitzende des Innenausschusses, das FDP- Mitglied Lüder, schoß sich zwar auf die Informationspolitik des Generalsbundesanwaltes ein. Als den dafür verantwortlichen Informationslieferanten hat er aber einstweilen noch den Vizepräsidenten des Bundeskriminalamtes, Gerhard Köhler, ausgemacht. Weil dieser dem Innenausschuß des Bundestages „zwei verschiedene Versionen der Wahrheit“ präsentiert und damit den Bundestag belogen habe, müsse erst einmal er seinen Posten räumen.

Seiters designierter Nachfolger als Innenminister, Manfred Kanther, kündigte an, er werde der Aufklärung der Aktion höchste Priorität einräumen. „Ich werde alles tun, um die Vorfälle schnell aufzuklären.“ Es werde dabei aber „keine Schnellschüsse“ geben, schob er nach – weder personell noch ermittlungstechnisch.

Anfang kommender Woche wird sich der Innenausschuß des Bundestages erneut mit dem Polizei-Debakel beschäftigen, bei dem vor gut einer Woche das mutmaßliche RAF-Mitglied Wolfgang Grams (40) und der GSG-9-Mann Michael Newrzella (25) ums Leben kamen. Den neuen Termin, der auf Antrag der SPD zustande kam, bestätigte der Ausschußvorsitzende Hans Gottfried Bernrath (SPD).

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizistinnen und Polizisten hat zwischenzeitlich nach eigenen Angaben Strafanzeige wegen des Verdachts der Strafvereitelung im Amt sowie verfassungsfeindlicher Sabotage erstattet. Ginge es nach dem Willen der Arbeitsgemeinschaft, müßte nicht nur von Stahl seinen Hut nehmen. Personelle Konsequenzen seien ebenso beim BKA und beim Bundesgrenzschutz fällig.

Eine Nachrichtensperre hat nun auch die Schweriner Staatsanwaltschaft über die Ermittlungen im Todesfall Grams verhängt. Behördensprecher Ernst Jäger begründete die Entscheidung mit den Worten, die laufenden Ermittlungen sollten nicht gefährdet werden. So wollte er über Zeitpunkt und Ort der Vernehmung der in Bad Kleinen eingesetzten Polizisten keine Auskunft geben.

Eine für gestern Mittag angekündigte detaillierte Stellungnahme des BKA, in der die genauen Umstände und Abläufe des Polizeieinsatz in Bad Kleinen offengelegt werden sollten, wurde Stunde um Stunde herausgeschoben. Bis Redaktionsschluß war sie noch nicht erfolgt. Wolfgang Gast