■ Spätlese
: Maupassant: Der Bart ist ab!

Heute vor einhundert Jahren starb Guy de Maupassant in einer psychiatrischen Klinik in Paris, und dieses sein Ende ist so wenig typisch für sein Schreiben und gibt wiederum derart vorhersehbar zu den allerkonventionellsten Ausführungen über die Nachbarschaft von Kreativität und Wahnsinn, Syphilis und Patriarchat, Schnurrbärtigkeit und verdientem Ende à la Torero Anlaß, daß wir uns lieber mit seiner Geburt beschäftigen wollen; vor 143 Jahren in Fecamp. Dieses Städtchen liegt am normannischen Meer und ist als einer der frühesten Badeorte in die kontinentale Vergnügungsgeschichte eingegangen: Hier ließen sich die Damen, wie auf der anderen Seite des Meeres schon bei der Jungfer Austen, im aufwendigsten Stile zu Wasser und zu Bade (ausgestattet mit mobilen Umkleidekabinen, Sonnenschirmchen und, späterhin, allseits verstärkten, always ultra wirkenden Schwimmkostümchen), hier wurde, sportlicherseits, jene Kultur-(sprich: Vergnügungs-)industrie also geradezu erfunden, von der später, in Frankfurt am Main und anderen nicht am Meere gelegenen Orten, soviel Wesens und kritische Rede sein würde: und hier schließlich kam auch der unterhaltende, dabei aber aufs entschiedenste kultivierte Autor Guy de Maupassant zu Welt und Welle, dessen Handwerk hieß: mit der Feder behaupten, beglaubigen, schmeicheln, sich widersprechen und, sehr wohl, amüsieren. Die hiesige Behauptung nun ist, daß dieser Geburtsort für Maupassant als Schriftsteller (als Lyriker, von dem niemand mehr spricht, als Novellist, den alle noch kennen, als Zeitungsautor, der gerade erst für uns übersetzt worden ist) von nicht zu unterschätzender, von typisierender, von nachgerade also paradigmatischer Bedeutung ist – und zwar sowohl, was seine Stärken, als auch – Sie haben's erraten –, was seine Schwächen betrifft.

Fangen wir mit diesen an, dann haben wir es hinter uns und können zum geselligen Teil kommen. Fecamp, das, wie gesagt, einmal ein attraktives Städtchen war (am Meere gelegen, idyllisch und windfroh zugleich, mit Yachthafen und Sandstrand versehen, mit Steilküste und Leuchtturm, mit allerhand Landschaft im Hintergrund und dem Horizonte vor sich), Fecamp also ist heute, einhundert Jahre nach des Maupassants Heimgang in Paris, bei weitem die häßlichste Seeörtlichkeit, wenn man von Norden kommt, aber die einzige, die dafür Kurtaxe erhebt, außerdem die einzige, die ein Museum der eigenen Seefahrigkeit gewidmet hat und mit störtebekerschem Selbstbewußtsein vom ungebratenen Hering bis zu allerlei ehemaligen Baulichkeiten aus allem das Kapital der Anerkennung zu schlagen weiß, nur aus einem nicht: aus seinem berühmten Sohnemann. So – so ganz ohne Geburtshaus und Denkmal, ganz ohne ständige Ausstellung und Literaturpreis, so nur mit einem Fischrestaurant des Guyschen Namens versehen –, so war es bisher, das kann die Unterzeichnende bezeugen, so ist es nur kurz für die Feierlichkeiten des Hundertjährigen dato mortale unterbrochen, da Fecamp dem Guy zwei vermutlich eher pflichtgemäße Ausstellungen widmet („Maupassant und die Impressionisten“, „Maupassants Leben und Werk“), so daß als Resümee zu ziehen bleibt, daß Fecamp als des Dichters Geburtsstadt sich jene Charakterschwächen zu eigen machte, die seinem berühmtesten Helden Bel-Ami angehören und, da dieser als Selbstportrait gilt, auch ihrem Autor umstandslos zugerechnet werden: Mangel an Seriosität, Aufschneidertum, allzu offensichtliche Kapitalisierung zufälliger (natürlicher) Begünstigung, (touristische) Ausnutzung vorübergehenden Interesses und situativer Angewiesenheit, Oberflächlichkeit, kurz und wenig ergreifend: Schnurrbärtigkeit.

Aber seine Stärken! So mögen vielleicht die zierlichen Bewegungen, mit denen seinerzeit die Genossinnen des gegenüberliegenden Geschlechts ihre noch ungeübten baren Füße auf den Sandstrand setzten, so mag bestimmt die beginnende Bademode und ihr befreiendes und doch einschließendes Verhältnis zum Weiberfleisch, so wird vermutlich die ganze Vergnügungsindustrie des Städtchens, die vom gemeinsamen Krabbenpulen zum Leierkasten bis zum Schattenspiel der Wimpern unterm Sonnenschirm reichte, auf den Knaben nicht ohne Einfluß geblieben sein: ohne erotisierenden, kultivierenden, sublimierenden und überhaupt begünstigenden Einfluß auf dessen spätere Literatur, in welcher die Frauen die zweite Hauptrolle spielen, und zwar sehr reich an Zwischentönen und Verkleidungen und keineswegs ohne Tiefe in jener ewigen Operette, für welche Maupassant als Librettist zuständig ist wie keiner. (Die historisch-kritischen Einwendungen, die an dieser Stelle obligat sind und beklagen, daß „das Bild, das er vom weiblichen Geschlecht malt, alles andere als harmlos ist“ – so Hermann Lindner im Nachwort zu der vor wenigen Tagen erschienenen „Liebe zu dritt“ stellvertretend für alle politisch und auch sonst gerechten Männern und Frauen unter den Lesenden –, ersparen wir uns hier: daß der Dichter in seinem Privatleben ein wenig an der Emanzipation interessierter Wüstling gewesen sein soll, hat seine Literatur nicht nennenswert beschädigt, in der die Frauen so gezeigt wurden, wie sie dem Gesellschaftsmanne erschienen, nämlich abhängig und in dieser Abhängigkeit mit allerlei Sklavenlisten die Verknechtung des Herrn ersinnend und betreibend.)

Gewissermaßen geschlechterübergreifend wirkt jene Kehrseite der oben erwähnten Schwächen, die auch im Deutschen zusammenfassend Charme heißen darf und ein, wenn nicht das wesentliche Antriebsmoment der wiederum entscheidenden Handlungen in Maupassants Romanen und Novellen ausmacht: der Charme ist es, dem sich Männlein und Weiblein nicht entziehen können, der für den größten Ruhm sorgt, die besten Geschäfte ermöglicht, der die Liebe begründet, der ins Unglück führt und wieder hinaus. Da Charme ein gesellschaftliches Phänomen ist, ein Zwischenelement, eine Vereinbarung, eine Zuschreibung, etwas nicht Faßbares, sondern nur in seinen Wirkungen Erkennbares (wie jene Lebensenergie, jenes Ur-Element, nach dem das neunzehnte Jahrhundert so intensiv gesucht hat), ist dieses Fluidum allen Systematikern verdächtig: so ist es kein Wunder, daß Maupassant als Autor niemals den ersten Rang in der redlichen und systematischen Literaturgeschichte einnahm, sondern immer nur den zweiten – jenen, auf dem sich die Eklektiker, die Feuilletonisten, die Nebenwerkler, die nicht ganz Vertrauenswürdigen tummeln: wie ein Heiratsschwindler unter Mönchen und braven Ehemännern, wie ein Syphilitiker, der er ja war, unter den richtigen, tragischen Selbstmördern, wie ein Gebrauchtwagenhändler unter Limousinenbesitzern.

Dabei hat Maupassant, bei allem Charme und aller Unterhaltungsfähigkeit, bei aller Geschmeidigkeit und Glätte seines Stils, bei aller Flexibilität in Genres und Verwendbarkeiten, sich nie gemein gemacht und immer mit größter (ja:) Kaltschnäuzigkeit das Recht des Autors auf Distanz zum Publikum verteidigt: „Wir schreiben nicht für das Volk“, sagt er von sich und seinesgleichen, „wir sorgen uns wenig um das, was so im großen und ganzen das Volk angeht; zugegeben, wir gehören nicht zum Volk. Die Kunst, um welche Sparte auch immer es geht, wendet sich nur an die geistige Elite eines Landes.... Von uns kann man nur eine einzige Sache einfordern: Talent. Haben wir das nicht, dann kann man uns gleich erschießen; wenn wir es aber haben, so ist es unsere Pflicht, es ausschließlich für die kultivierten Leute einzusetzen, die die einzigen Richter über unsere Meriten sind, nicht aber für die Ungebildeten, denen unsere Kunst unbekannt ist.“ So sprach und schrieb er und wurde doch bekannt mit einer Novelle, die von nichts anderem erzählt als von der berechnenden, der niedrigen, der schmählichsten Denkungsart der herrschenden Klasse, die sich daran zeigt, wie sie mit einem Mädchen des beinahe untersten Standes umgeht, wenn sie Gelegenheit bekommt: „Boule de suif“. (Diese Novelle eröffnet den unten erwähnten Band des dtv, der zum heutigen Anlaß aufs dringlichste empfohlen sei: blendend übersetzt, in zierlichem Format und so billig, wie gute Bücher sein sollen.) „Boule de suif“ ist so geschrieben, daß auch seine Hauptfigur, läse man ihr die Geschichte vor, ihre Freude daran haben könnte – an ihrer unterhaltsamen, sich spannenden Oberfläche nämlich, an der leichten Lesbarkeit ihrer Moral, an der Lebendigkeit ihrer Charaktere, an den Überraschungen ihres Verlaufs – aber sie ist nicht eigentlich für sie geschrieben: die wahren Qualitäten dieser Novelle, ihre buchstäbliche und lautmalerische Abtönung, ihre amüsierte Gnadenlosigkeit, ihre permanente Ironie ist nur für Eingeweihte – für Kultivierte eben.

So enthüllt sich zum Schluß, in der Ernsthaftigkeit seiner Kunst, in der vollendeten Handhabung seiner Technik, in der Flaubertschen Höhe seines Anspruchs, in der Pedanterie von dessen Umsetzung, Guy de Maupassants letztes Geheimnis, d. H. Es sei enttarnt von einer verehrenden Leserin: sein Schnurrbart war ein Toupet.

Guy de Maupassant: „Fünfzig Novellen“. Ausgewählt und übersetzt von N.O.S Carpi. dtv, 18 DM

Ebenfalls gerade erschienen: „Die Liebe zu dritt. Geistreiche Plaudereien über das Leben und die Kunst.“ (Dieser Titel ist nicht vom Autor und versammelt Reiseberichte, Portraits und Würdigungen sowie Erwägungen Maupassants, die dieser damals in Zeitungen veröffentlichte und die sich heutzutage, nur schlechter geschrieben und ärmer im Geiste, als „Aphorismen“, oder dergleichen von Meiers, Gross' und anderen Stirnen auf die letzten Seiten diverser Magazine splittern.) Deutsche Erstausgabe. Auswahl, Übersetzung und Nachwort von Hermann Lindner. dtv, 16,90 DM