■ Jürgen Rüttgers (CDU) lobt die SPD für die Urwahl ihres neuen Parteichefs: „Hut ab!“
: „Viel zu viele Betonstrukturen“

Jürgen Rüttgers ist Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion in Bonn und Vizevorsitzender der CDU Nordrhein-Westfalen. Der als Reformer geltende Politiker fordert eine Öffnung und einen Rückzug der Parteien.

taz: Herr Rüttgers, nachdem die SPD ihren neuen Vorsitzenden per Urwahl gewählt hatte, wurden Sie mit dem Satz zitiert: „Der Beton ist abgesprengt.“ Was ist der Beton?

Jürgen Rüttgers: Ich habe gesagt: Der Beton muß abgesprengt werden. Die Parteien haben noch viel zu viele Betonstrukturen. Für die Parteiarbeit braucht man heute Statute, eine Satzung, Parteigerichte und ordentliche Gerichte. Im Fall der CDU gibt es sogar bereits einen juristischen Kommentar zur Satzung. Den muß man lesen, wenn man eine Parteiversammlung durchführt. Da ist es kein Wunder, wenn jungen Leuten Parteiarbeit keinen Spaß macht.

Die Urwahl in der SPD war ein Signal, das Ihnen Hoffnung gemacht hat?

Diese Urwahl in der SPD war aus einer schweren Führungskrise geboren. Die SPD hat hoch gepokert. Sie hat gewonnen. Hut ab!

Wann wird das erste Mal ein CDU-Chef in Urwahl gewählt?

Dann, wenn es eine strittige Situation gibt. Die SPD wäre auch nie auf die Idee gekommen, vor der Wiederwahl von Willy Brandt eine Mitgliederbefragung zu machen. Was die Union angeht: Auf dem Parteitag der nordrhein-westfälischen CDU in Münster haben wir am Samstag beschlossen, unsere Satzungen für Mitgliederbefragungen zu öffnen. Sie sind künftig für alle Fragen, auch inhaltliche, möglich. Daneben gibt es jetzt die Möglichkeit, Kandidaten für Stadtrat, Kreistag, Landtag und Bundestag auf Mitgliederversammlungen zu wählen statt auf Delegiertenversammlungen.

Die Junge Union forderte, die Mitgliederbefragung verpflichtend einzuführen. Wäre das besser gewesen?

Nein. Man kann nicht mehr Mitgliederrechte einführen und gleichzeitig von oben herab alles verpflichtend festlegen.

Ihr Parteitag hat auch einiges abgelehnt, etwa die „Schnuppermitgliedschaft“ für ein Jahr.

Die Delegierten waren nicht bereit, den „Schnuppermitgliedern“ das Recht einzuräumen, mitzuentscheiden. Das ist bedauerlich, aber kein Beinbruch. Gleichzeitig haben wir nämlich beschlossen, die Parteiarbeit bei konkreten Projekten für Nichtmitglieder zu öffnen.

Im Leitantrag des nordrhein- westfälischen CDU-Vorstands wird eine Begrenzung der Amtsperioden von Amts- und Mandatsträgern angeregt. Auf wie viele Perioden sollte die Amtsdauer denn begrenzt werden?

Ich bin auch hier gegen generelle Regelungen. Die Folge wären Rotationsverfahren der Art, daß ein Bundestagsabgeordneter dann in das Europaparlament wechseln würde und umgekehrt. Wichtig ist, daß das Signal kommt: Politische Ämter sind keine Lebenszeitämter.

Sie fordern den Rückzug der Parteien aus einigen gesellschaftlichen Bereichen. Auch aus den Rundfunkräten?

Über diese Frage hat es auf dem Parteitag eine lebhafte Auseinandersetzung gegeben. In Zukunft sollen die Gebührenzahler selbst die Aufsichtsgremien wählen. Das ist ein fast revolutionärer Ansatz.

Die Forderungen zur Bekämpfung des Rechtsextremismus, die Sie für die CDU/CSU-Fraktion aufgeschrieben haben, klingen anders. Die Vertreter des Bundes in den Rundfunkräten, heißt es da, sollten stärker auf eine „ausgewogene und repräsentative Berichterstattung“ drängen. Kein Widerspruch?

Das eine bezieht sich auf den Jetzt-Zustand: Noch sind die Parteien in den Rundfunkräten. Das andere ist eine Zielvorstellung.

Zumindest die beiden großen Parteien CDU und SPD ziehen Mitglieder auch deshalb an, weil man über die Parteimitgliedschaft Einfluß in Institutionen gewinnen kann. Bei einem Rückzug der Parteien kann ihre Attraktivität für solche Mitglieder sinken. Ein Zielkonflikt?

Diesen Zielkonflikt gibt es. Um so erfreulicher ist es, daß die CDU als bürgerliche Partei solche Wege geht. Wir müssen die Sache einmal aus den Augen eines Bürgers betrachten: Ganz gleich, wohin er sich in Staat oder Gesellschaft mit einem Anliegen wendet, sieht er sich den immer gleichen Personen gegenüber. Dieser Bürger wird Parteien nicht mehr als Möglichkeit der Mitbestimmung sehen, so wie es das Grundgesetz formuliert. Vielmehr wird er die Arbeit der Parteien als Form von Fremdbestimmung erleben. Hier liegt die zentrale Frage, wenn wir über Politikverdrossenheit reden. Parteien sollten sich nicht als Cheforganisatoren in allen gesellschaftlichen Fragen verstehen.

Ein Gremium, das nach Meinung vieler Kritiker zu ausschließlich von den Parteien dominiert wurde, war die Verfassungskommission von Bund und Ländern.

Die Auffassung der CDU war, daß sich das Grundgesetz bewährt habe und nur in einigen Punkten anzupassen sei. Deshalb gab es für uns keine Notwendigkeit, so etwas wie einen Verfassungskonvent einzuberufen.

Als die Verfassungskommission erstmals darüber abstimmte, das Staatsziel Umweltschutz in das Grundgesetz aufzunehmen, setzten Sie im Auftrag Ihrer Fraktionsführung die Kommissionsmitglieder der Union unter Druck, dem vom Vorsitzenden Rupert Scholz mit der SPD abgesprochenen Kompromißvorschlag nicht zuzustimmen. Widerspricht Ihr Verhalten in dieser Sache nicht dem Reformergeist, den Sie vertreten?

Ich habe mir selbst diese Frage gestellt, denke aber, daß mein Verhalten richtig war. Die Union wollte und will ein Staatsziel Umweltschutz, aber mit einem klaren Gesetzesvorbehalt. Es war zu diesem Zeitpunkt klar, daß die damals in Rede stehende Formulierung im Bundestag keine Zweidrittelmehrheit bekommen würde. Da war es ein Gebot der Ehrlichkeit, das bereits in der Verfassungskommission deutlich zu machen.

Wenn Sie Ihre Vorstellungen zu Ende denken: Was bleibt dann von den alten Volksparteien?

Statt Gremienparteien wird es Bürgerparteien geben. Klar ist: Es wird ein langer und schwieriger Prozeß bis dorthin. Das löst sich nicht mit einem Parteitagsbeschluß. Aber den deutschen Parteien muß klar sein, daß sich Demokratien auch ohne Parteien unseres Zuschnitts organisieren lassen. Denken Sie an die USA. Die deutschen Parteien müssen sich verändern, wenn sie sich nicht selbst überflüssig machen wollen. Interview: T.Bruns / H.-M.Tillack