Der Anfang vom Ende des Freihandelsprinzips

Heute beginnt in Tokio der alljährliche Mammutgipfel der sieben potentesten Industrienationen. Weil an die Utopie multilateraler Interessenkoordination ohnehin längst keiner mehr glaubt, nutzten schon gestern Japans Premier Miyazawa und Bill Clinton den G-7-Anlaß, die Wogen ihres Handelskrieges bilateral zu glätten.

„Dieser Weltwirtschaftsgipfel ist ein Nicht-Ereignis. Alle, die kommen, sind zu Hause entscheidungsunfähig.“ Kazuo Nakazawa, Top-Manager des mächtigen „Keidanren“, Japans führenden Arbeitgeberverbandes, urteilt hart, aber gibt sich gelassen. Während der Anwalt des Großkapitals gemütlich seine Beine ausstreckt, streichelt er sanft das Stoffkaninchen auf seinem Schoß. „Das hier ist ein Souvenir vom Wahlkampf in den USA“, erzählt Nakazawa und deutet dabei auf eine Anstecknadel im Kaninchenfell mit der Aufschrift „Bill&Hillary“. Im Chefzimmer des Arbeitgeberhauptquartiers simuliert der Hausherr Sentimentalität: „Ja, auch ich war ein Clinton-Fan. Clinton ist so ein guter Mann, der keiner Fliege etwas zu Leide täte. Ganz im Gegensatz zu Nixon.“

Was sonst gäbe es zum Eintreffen der Staatschefs der sechs reichsten Industrienationen am Dienstag in Tokio noch zu bemerken? „Ich sehe in Bundeskanzler Kohl die zur Zeit stärkste Person. Er ist konservativ und kennt seine Botschaft“, bemerkt Kazuo Nakazawa höflich. Doch überzeugend klingt auch das nicht.

Wie wenig Überzeugung auch die Protagonisten des Gipfels mit nach Tokio brachten, zeichnete sich bereits am Dienstag bei den Vorgesprächen zwischen den beiden größten Wirtschaftsmächten ab: Auch Bill Clinton und der japanische Premierminister Kiichi Miyazawa konnten gestern nach einer einstündigen Unterredung über das ewige Dilemma ihrer unausgeglichenen Handelsbilanz nur wiederholen, was man zuvor bereits wußte: „Bei einer Reihe von Themen bleiben wir unterschiedlicher Auffassung“, stellte Clinton fest. „Unsere bilateralen Verhandlungen werden bis zum Ende des Gipfels fortdauern“, ergänzte Miyazawa.

Ungewollt gaben Amerikaner und Japaner damit bereits ihre Gipfelpläne preis: Statt im Gespräch der sieben Teilnehmerstaaten den Konsens einer gemeinsamen Handels- und Währungspolitik zu suchen, ist es Tokio und Washington offenbar wichtiger, die Gipfel-Gelegenheit zu nutzen, um die Wogen ihres pazifischen Handelskrieges zu glätten. Der Deutsche Jesper Koll, Chefökonom beim britischen Wertpapierhaus „Warburg Securities“ in Tokio, glaubt deshalb nicht mehr an die Utopie multilateraler Interessenkoordination, wie sie sich im Kreis der Sieben vollziehen soll. „Das einzige, das in der Woche des Weltwirtschaftsgipfels wirklich zählt“, meint Koll, „ist das, was Clinton mit den japanischen Bürokraten vereinbart. Die Europäer können dann allenfalls in einem Spiel mitspielen, das gegen ihre Interessen verstößt.“

Im US-japanischen Streit geht es um handfeste Forderungen: Die USA verlangen von Japan die Festlegung auf eine Reduzierung des Handelsüberschusses (1993 voraussichtlich 150 Milliarden Dollar) von heute über drei Prozent auf ein bis zwei Prozent des japanischen Bruttosozialprodukts. Darüber hinaus wollen die USA in bestimmten Produktbereichen, wie etwa bei Halbleitern, Autoteilen und Glasmaterialien, feste japanische Importquoten vereinbaren. Tokio aber widersetzt sich bisher mit noch nicht dagewesener Vehemenz den amerikanischen Verlangen, die aus japanischer Sicht gegen die Freihandelsidee verstoßen. Als Kompromißvorschlag bot Miyazawa gestern neue Kriterien der statistischen Handelsermittlung an, um beiden Regierungen eine bessere Kontrolle ihres gegenseitigen Warenaustausches zu ermöglichen. Doch Clinton wies das Angebot vorerst zurück.

„Freihandel – wer praktiziert ihn noch ...“

Das Ausbleiben der US-japanischen Einigung torpediert freilich den Fortgang aller anderen Gespräche. Politisch wurde der Gipfel in Japan noch vor Jahresfrist als Kickstart für eine neue Weltordnung in Asien geplant. In Tokio wollten die Weltoberen den erwarteten Erfolg der Blauhelm- Mission in Kambodscha feiern, des bislang größten Militäreinsatzes in der Geschichte der UNO.

Doch dann kamen ihnen die Ungereimtheiten in Ex-Jugoslawien und Somalia dazwischen. Wirtschaftlich sollte das Tokioter Treffen gar den Durchbruch zur einer freien Handelsordnung bringen. Statt dessen prophezeit ein japanischer Handelsbeamter: „Bei diesem Gipfel könnten wir das erste Mal erleben, daß der Grundwert des Freihandels in Frage gestellt wird. Bisher war dieses Prinzip unantastbar.“

Die Verwirrung über Sinn und Zweck der Tokioter Mammutveranstaltung ist allseitig. Vor allem die scheinbar beliebige Koalitionsbildung unter den Sieben, wo sich je nach Sachfrage schließlich jeder mit jedem streitet, unterstreicht die Konzeptionslosigkeit der Staatschefs. Immer häufiger kommt es vor, daß, wer im Kreis der Triade einen Vorschlag macht, damit rechnen muß, die beiden anderen im Dreieck gegen sich zu haben. So erging es den Amerikanern, als sie kürzlich einen Privatisierungsfonds zur Unterstützung russischer Betriebe ins Leben rufen wollten. Nicht nur die Japaner protestierten erwartungsgemäß, sondern auch Deutsche und Franzosen mißbilligten den Clinton-Vorstoß, weil er von ihnen noch einmal neue Aufwendungen verlangt hätte. Wie taktisch unklug sich Bonn und Paris damit verhielten, wurde man im anschließenden Streit um die tatsächliche Auszahlung der Hilfsversprechungen an Moskau gewahr. Hier waren es nun die Europäer, die sich über die Zahlungsunwilligkeit von Amerikanern und Japanern empörten. Doch wie immer es steht, der, der etwas für die Gemeinsamkeit verlangt, steht alleine gegen zwei.

Das gilt nicht nur für die Rußlandhilfe. Bei der gegenseitigen Verpflichtung auf Wachstumsziele fordern die Amerikaner, wogegen sich Europäer und Japaner wehren. Bei den Gatt-Gesprächen bietet heute Japan Zollsenkungen an, gegen die sich Amerikaner und Europäer verwahren. Wenn sich schließlich Europäer gegen bilaterale Handelsabsprachen zwischen den beiden größten Wirtschaftsmächten aussprechen, verhalten sich Japaner und Amerikaner gleichgültig.

Keine bilaterale Allianz hält die Sieben mehr zusammen – weder die deutsch-französische, noch die US-japanische Entente sind einträchtig genug, den fünf anderen am Tisch einen gemeinsamen Weg zu zeigen. „Wo immer man auch hinschaut, erscheinen gegenläufige und miteinander konkurrierende Einflüsse“, beobachtet der Amerikaner Robert Hormats, Vize-Präsident des US-Wertpapierhauses „Goldman Sachs“, den Vorlauf zum G-7-Gipfel. „Wir befinden uns in einer kritischen Phase.“

Jesper Koll von Warburg Securities aber regt sich über die Versäumnisse der angeblichen Weltregierung G-7 schon lange nicht mehr auf. Das alles gehört für ihn zum nicht mehr aufzufrischenden Erbe des Kalten Krieges: „Freihandel, wunderbar, ich bin auch dafür – aber wer praktiziert ihn noch?“ Georg Blume, Tokio