Jammerhaltung angenommen

■ Nach dem Bachmann-Wettbewerb: Der Siegertext „Haus ohne Menschen“ und Kurt Drawert aus Osterholz-Scharmbeck

Wer heutzutage einen Bachmann-Preisträger sucht, darf's mit der Sprache nicht mehr so genau nehmen. So kommt es zu Siegertexten, welche beklagen, daß „Wunden im Wandkörper liegen“, daß „Industriestadtmenschen“ „eng wie in einer Schlacht aneinanderkleben“ und daß im übrigen ein jeder seinen „unabkömmlichen und meistens vollkommen zwecklosen Verrichtungen nachgeht“.

Da die Schlachten klebrig und die Verrichtungen unabkömmlich sind, wollen wir uns an den gepriesenen Autor halten: Kurt Drawert hat mit seinem Text „Haus ohne Menschen“, abgedruckt im jüngsten „Spiegel“, vor zwei Wochen den Klagenfurter Ingeborg-Bachmann- Wettbewerb gewonnen. Und die Weltpresse war angetan von der endzeitgemäßen Tirade der Finsternis, mit welcher Drawert (37) seine Geburtsstadt Leipzig besang.

Vor einigen Monaten nun ist der Dichter nach Osterholz- Scharmbeck und damit in den Geltungsbereich des Lokalteils übergesiedelt; Grund genug, einmal nachzulesen. Und siehe, es finden sich tatsächlich schaurigschöne Sätze wie dieser: „So ist auch der Raum, in dem ich sitze und mich schmutzig mache und der alles mit mir zu tun hat und in dem alles von mir erzählt und der nichts mit mir zu tun hat und der von allem anderen erzählt als von mir und ein einziger Fäulnisraum geworden ist...ein Substanzdreckraum, in dem sich noch etwas Ungeziefer über die Zeit hin gerettet und in den Winkeln, Ritzen und dunklen Nischen festgesetzt und ausgebrütet hat.“

Na, ist das Musik? Das ist Musik. Ist es auch Literatur? Wer weiß. Die Ichfigur fährt fort mit ihrem Untergangssingsang, die DDR betreffend, groß ist die Maladie, ach Herrjegerl, es geht halt so weiter, da kann man nichts machen, und es geht endlos dem Ende zu. Und in Sätzen, die einem mit ihrem weiten, weiten Ausschreiten immer ein wenig den Leseatem benehmen. Es will einem schier schummrig werden; daher kommt wohl das leicht Hypnotische, das ganz leicht Euphorisierende; vielleicht schüttet das gute alte Stammhirn aus klammer Not Endorphine aus. Aber ist das Literatur?

Eher ist es eine Gymnastik, ein Sprachexerzieren. Die Ichfigur nimmt die Haltung des Jammers an und folgt dann dem vorgesehenen Exerzierreglement; das kann der Autor, das vollzieht er geradezu fesch und taktsicher. Die Sätze machen physisch ganz schön Eindruck, aber die Idee, nach der sie ihre Parade vollführen, ist eine ganz und gar maschinelle. Wir dürfen uns eine Art Sprachautomat vorstellen; der Schalter steht auf Düsternis.

Folgerichtig fällt der Automat aus, wenn er, statt seriell über das Immergleiche zu lamentieren, drauß' im Leben etwas zu registrieren, wenn nicht beobachten hätte, was sich noch bewegt: Da ermattet Drawert schon im Allernächstliegenden und schreibt von der „Stelle im Raum, an der ich sitze und an der mein Körper und meine Sinne in diesen vulgär pulsierenden Rhythmus der Straße übergehen“, und schon sind wir vor lauter pulsierendem Rhythmus der Straße mitten im Bastei-Krimi. Solchen Billigsätzen ist nicht mehr das geringste über die Straße oder das sitzende, übergehende Dichter-Ich zu entnehmen; da dengelt nur noch die Rhythmusmaschine ihren Tekkno-Beat vor sich hin.

Danken muß man dem Dichter für einen stellenweise tanzbaren Text und mehr noch für die Erfindung des „Substanzdrecks“ und des „Substanzdreckraums“, aber der Text über der Musik leiert dahin zum Händeringen düsterschwer. Hat's das je gegeben: Literatur, die bloß jammert ohne jeden Witz? Ohne jeden im größten Miserere noch versteckten, ja lauernden Vor- und Aberwitz? Nie! Wer über den Jammer nichts als jammern kann, verdoppelt den Jammer nur mit seinem eigenen.

Der Autor, heißt es, habe den Text in Klagenfurt stockend, ja hie und da fast weinend vorgetragen. Er ist ja auch, der Text, den Wonnen des Rosenkranzbetens nahe, wenn nicht des gänzlich Okkulten. Ein weihequalmender Abgesang ist es, diesmal auf Leipzig und die DDR, was vermutlich alleine schon einen Preis wert ist. Es hätten diese letzten Worte aber auch über jede andere Stadt gesprochen werden können. Wirklich an den Kragen geht's uns erst, wenn Osterholz- Scharmbeck dran ist.

Manfred Dworschak