Lustwandeln, Schauen lernen

■ Ein original Bremer Volkssport: das „Kulturwandern“ - durch Feld, Wald und Kirche mit dem Autor Lothar Pohlmann

Schon Friedrich Engels, „der bekannte Sozialist“ (lt. Broschüre des Bauamts Bremen- Nord), wußte die Ödnis des Bremer Flußlandschaft zu beklagen: Die langweiligen Uferlandschaften, die drögen hannoverschen Dörfer — aber dann: die Vegesacker Promenade samt des florierenden Stadtgartens — „eine Oase“ in der uferlosen Wüstenei.

Auf Engels Spuren wandeln heuer hunderte von BremerInnen. Beim „Kulturwandern“ des rührigen Vereins „Freizeit 2000“ nämlich, der sich gerade erstmals nach Bremen-Nord aufmachte, in den dortigen Stadtgarten samt weiterer Umgebung. Im dritten Erfolgsjahr seines Bestehens lädt der Verein diesmal zum „Lustwandeln in Bremer Parks“. Mit gemächlichem Wandeln oder gar hedonistischer Lustbefriedigung hat das freilich wenig zu tun: Die Teilnehmer sind gehalten, „Leib und Seele zu trainieren“, und zwar drei bis vier Stunden am Stück.

So zockeln die etwa 200 Wanderfreunde munter hinter ihren Hostessen her und ahnen vielleicht gar nichts vom tieferen, ja: quasi-philosophischen Sinn ihres Tuns. Den hat sich Lothar Pohlmann ausgedacht, Autor und „Freizeit 2000“-Aktivist. Beim Kulturwandern sollen die Menschen „die eigene Bildung und Gesundheit gleichermaßen pflegen“, sagt er. Und ruft die BremerInnen auf: „Gehen Sie auf eine Entdeckungsreise, die beeindruckende ästhetische und historische Erlebnisse bietet.“ Vor allem aber sollen die TeilnehmerInnen „ganz bewußt das Schauen lernen“, sagt Pohlmann, „in der Natur wie auch Drinnen.“

Schauen wir also mal: In die Bremer Kirchen, die Pohlmann mit den Seinen 1991 erstmals umwanderte; in die ehemaligen Behausungen berühmter Bremer KünstlerInnen (1992); und schließlich in die Parks und Gärten der Stadt. Wo uns „Grün auf Schritt und Tritt“ begegnet, wie das Gartenbauamt im Begleitheft schreibt. Da spricht selbst der Papst seinen Segen über Pohlmanns Unternehmen, und auch Wander-Guru Karl Carstens füllt salbungsvoll die Grußwort-Rubrik. Schließlich trieb Pohlmann noch Lew Kopelew auf: „Solche Wanderungen“, schreibt uns der Friedenspreisträger in die Broschüre, „sollten zu regelmäßigen, pädagogischen, aufklärerischen Unternehmungen werden.“ Wenn das der Engels hören könnte.

Und siehe: Der Geist der Aufklärung lebt — zumindest unter den Kulturwanderern. Viele, die in die Parks aufbrechen, sind zum wiederholten Male schon dabei; sechs Hostessen müssen die Gemeinde umsorgen und führen. Vorbei die Zeiten, als Pohlmann selbst, allein mit seinem Megaphon, auf die ersten „Kirchturmwanderungen“ ging, um vor einer kleinen Schar von Gläubigen die Wunder der Bremer Kirchenbaukunst herunterzubeten.

Nein: Heute ist alles straff organisiert. Schon eine dreiviertel Stunde vor dem Start wird ein geräumiger Parkplatz in Schönebeck bereitgestellt. Tapeziertische geben Tickets aus, „Freizeit 2000“-Broschüren streunen umher, und schon blasen die Hostessen zum Abmarsch.

Auch unsere Frau Mehlau zupft ihr marineblaues Schiffchen auf dem Blondschopf zurecht. „Ich bin ja nicht der Sportlichsten eine“, scherzt sie. Und setzt im nächsten Augenblick zum Stechschritt an.

Da macht sich eben der Erfolgsdruck bemerkbar, der mittlerweile auf Pohlmanns Unternehmen lastet. Eine ganze Zweihundertschaft erst durch die Landschaft und dann durch die Korridore des Schönebecker Schlosses zu geleiten, das grenzt schon ans Unmögliche. Und manchem Wanderer wirds dann auch zu eng zwischen den Vitrinen, zwischen gestrandeten Galionsfiguren, aufgespießten Mäuseschädeln und den Resten Altbremer Wohnkultur.

Kritik am Gedränge wird aber nur selten laut. Auch, als es im Gänsemarsch durch die Auen geht, hinunter zum Vegesacker Hafen (wo noch rasch ein Preisrätsel absolviert wird), um schließlich im Stadtgarten kaum noch Zeit für denselben zu haben, da nehmen es die Wanderfreunde mit Langmut hin. Nur ein paar kleinere Einheiten älterer Damen haben sich, nach kaum drei Stunden Marsch in des Sommers Hitze, verschämt in eine Hafenkneipe abgesetzt.

Und seine Kritiker verweist der brave Pohlmann an sein schlaues Buch: Anhand der selbstverfaßten Broschüre könne schließlich ein Jeder selbst und nach eigenen Zeitmaß auf Kulturwanderung gehen. Wer das heimatliche Grün aber lieber in kameradschaftlicher Volkswander-Stimmung ergründen möchte, der hat in dieser Saison noch viermal Gelegenheit dazu; das nächste Mal am 8. August, wo es die Wandersleute nach Grolland zieht, in den Park links der Weser. Thomas Wolff

Weitere Infos bei „Freizeit 2000“, August-Bebel-Allee 41, 28329 Bremen