Somnamboulevard – Manhattan im Meer Von Micky Remann

Als die Schwester des Missionars– ihr Name war Irene – Futter für ihren Hamster besorgte, wurde ihr dieses in einer Zeitung eingewickelt, auf deren Inhalt und Datum sie erst Monate später achtete, als der Hamster – sein Name war Tolo– schon alles weggefuttert hatte. Bei dem Packpapier handelte es sich um die „Wahrheit“ vom 8. Juli, und weil sie gerade nichts Besseres zu tun hatte, glättete Irene das zerknitterte, nach Tierfutter riechende Blatt und las, während sie sich in ihr bequemes Ledersofa zurücklehnte, dem gemütlich vor sich hin knuspernden Hamster daraus vor.

Es wurde nach einem Vorspann, den wir uns hier schenken können, folgendes Ereignis gemeldet: Ein Inselvolk, das, ob recht oder schlecht, wurde nicht berichtet, am Rande eines Mischwaldes aus Mango-, Papaya- und Ananasbäumen lebte, wurde eines Tages jener saftigen Obstdiät überdrüssig. Jemand schlug vor, eine Kanufahrt aufs Meer zu unternehmen, um Langusten und Hummer zu fangen und damit den Bedarf an Proteinen, Magnesium, Spurenelementen, Vitamin D und Vitamin B12 zu decken, also der ganze Kram, den die DNS-Moleküle eben brauchen, um keine Fehlkopien ihrer selbst zu produzieren. Der Vorschlag wurde begeistert aufgenommen, und schon bald paddelte man singend und klatschend in See.

Das Wetter war wolkenlos wie selten, weswegen die Ausflügler um so überraschter waren, daß ausgerechnet, als sie am weitesten draußen waren, schwere, schwarze Wolken am Horizont erst aufzogen und sich dann so kompakt verdichteten, daß der Seegang für zarte Gemüter bald ziemlich übelkeitserregend wurde. Zu aller Schmach fing es auch noch zu donnern und zu blitzen und zu schütten an, wobei, was in der jetzigen Sekunde bereits verdammt schlimm war, in der nächsten noch schlimmer wurde. Streckenweise sackte das Kanu in Wellentäler, so tief wie der Grand Canyon, und sauste dann wieder auf Wellenkämme, so hoch wie schwappende Hochhäuser in Manhattan, und es war nur ein milder Trost, daß von der weh und ach schreienden Besatzung noch niemand im Grand Canyon, geschweige denn in Manhattan war. Wenn ihnen die pfeifende Gischt nicht allen Atem raubte, fragte sich jeder und jede: „Wie wird mir? War es das, was ich wollte?“ So ging es viele Stunden, von denen eine prekärer als die andere war, bis das Unwetter nachließ und die dottergoldene Abendsonne etwas Licht in den Tumult brachte.

Die Leute waren weit vom Kurs ab- und tief in die Bredouille gekommen, das stand fest, denn das einzige, was sie sahen, waren zwei winzige Inseln in exakt gleicher Größe und Entfernung, aber an entgegensetzten Enden des Horizonts. Verwirbelt in Kopf und Körper, wie sie waren, wußten sie nicht, welche der beiden die Heimatinsel war und welche eine wildfremde, klar war nur, daß sie sich entscheiden mußten, eine anzusteuern, um die andere aus dem Blick zu verlieren. „Wohin soll ich jetzt mein Kanu lenken?“ fragten sich die Leute. Da geschah nun ...

Doch weil der treuherzige Hamster Tolo, dem Irene dieses vorlas, den Rest der Zeitung bereits weggemümmelt hatte, brach die Geschichte an diesem Punkt leider ab.