Seit den Kämpfen in Mostar haben muslimanische Soldaten bei der kroatisch-bosnischen Armee (HVO) ausgedient: In Capljina sind die meisten verhaftet worden und in den Lagern Tretelj und Gabela interniert. Aus Capljina Erich Rathfelder

Aus Waffenbrüdern wurden „Verräter“

„Wir hatten noch kein Auge zugemacht, obwohl es schon 2 Uhr nachts war.“ Das war in der Nacht zum 5. Juli. Der Muslimanin ist die Angst noch anzumerken. Sie und die anderen Lagerinsassen hatten den Atem angehalten, als der Jeep an der Eingangstür des Lagers vorgefahren war. Die Türen klappten, fünf Männer, „ihre Maschinenpistolen im Arm“, waren langsam ausgestiegen und hatten die Eingangstür des Flüchtlingslagers von Capljina, wo in 61 Waggons der deutschen Reichsbahn über 260 Flüchtlinge untergebracht sind, geöffnet. Die Schritte der bewaffneten Kroaten knirschten auf dem Kies. Eine Waggontür öffnete sich quietschend. Es waren nur Wortfetzen, die die Zeuginnen hatten erschauern lassen: „Rache für unsere Kameraden“ und „Wir müssen sie alle umbringen“, drang an ihre Ohren. Endlich wachten auch die deutschen Verwalter auf. Mathias F. und Monika K., die seit März in diesem Lager der deutschen Hilfsorganisation Cap Anamur beschäftigt sind, wagten sich bis zu den nächtlichen Ruhestörern vor. Die offenbar angetrunkenen Männer wollten von dem Bewohner eines der Waggons – selbst ein Flüchtling und Kämpfer der kroatisch-bosnischen Armee HVO – wissen, wo „die Muslimanen sind“. Erst nach langem und beschwichtigendem Reden, erst nach dem Hinweis, daß Tage zuvor schon die Militärpolizei dagewesen sei, daß einige der waffenfähigen Muslimanen verhaftet worden seien, beruhigten sich die bewaffneten Kroaten. Und sie zogen sich zurück – nicht ohne den muslimanischen Frauen in den Waggons noch zuzurufen, daß sie schon bald gefesselt und vergewaltigt würden.

„Für uns ist die Spannung schon fast unerträglich geworden.“ Mathias F. weiß nicht mehr, wie es weitergehen soll. Denn selbst in dem Lager, zwischen den Flüchtlingen, knistert es. Zu den seit März hier lebenden 124 muslimanischen Vertriebenen haben sich in den letzten Wochen auch kroatische Flüchtlinge gesellt. Sie kommen aus Zentralbosnien, aus Travnik und den benachbarten Dörfern; sie sind vor den, wie sie sagen, „Mudschaheddin“ geflohen. Und viele von ihnen können nicht verstehen, daß hier, in der kroatischen Westherzegowina, „diese Feinde“ durchgefüttert werden. Auch bei kroatischen Flüchtlingen aus anderen Regionen, die schon länger hier sind – zusammengenommen sind es 136 –, ist die unsichtbare Grenze, die jetzt das Lager teilt, scharf gezogen. Denn mit den Kämpfen in der kaum 20 Kilometer entfernt liegenden Stadt Mostar, seitdem „die Mudschaheddin unsere Leute abschlachten“, wollen auch sie nichts mehr mit den „Muslimanen hier“ zu tun haben. „Wir müssen die muslimanischen Flüchtlinge möglichst schnell evakuieren, wir können ihre Sicherheit nicht mehr garantieren“, meint Mathias F.

Der Ausbruchsversuch der bosnischen Armee aus dem Kessel von Mostar, wo über 50.000 Muslimanen auf der linken Seite der Neretva und in der Altstadt eingeschlossen sind, hat in der kroatischen Bevölkerung einen Schock ausgelöst. Seit dem 29. und 30. Juni geschah nämlich etwas, was man der bosnischen Armee gar nicht zugetraut hatte: Mit ihrer Offensive gelang es der bosnischen Armee, die HVO-Kaserne „Tijomir Misic“ in Bjelo Polje, einem Vorort von Mostar, einzunehmen. Der Armee, die zudem von HVO und Serben eingekesselt und von Lebensmittel- und Wasserzufuhr abgeschlossen war, gelang es sogar, einen Korridor nach dem nördlich gelegenen zentralbosnischen Jablanica zu erkämpfen.

Dies konnte nur durch „Verrat“ geschehen. In diesen Tagen sind tatsächlich 363 muslimanische Kämpfer der HVO zur bosnischen Armee übergelaufen. „Ohne diesen Verrat“, so Veso Vegar, der Sprecher der HVO in Mostar, „hätten die uns nie und nimmer überraschen können.“ Seither ist der „Dschihad“ des Arif Pašalić, so der Name des bosnischen Kommandanten in Mostar, zu einem Hauptthema in der Presse Kroatiens geworden. Da wird von Massenmorden berichtet, von „Mudschaheddin“, die nichts anderes im Sinne hätten, als die kroatische Bevölkerung auszulöschen. Ein angeblicher Befehl Arif Pašalićs wird zitiert, in dem die bosnische Armee aufgefordert wird, alle kroatischen Männer zu ermorden und die Frauen und Kinder gefangenzunehmen. Und immer wieder wird die Undankbarkeit „der Moslems“ hervorgehoben: „Wir haben ihnen die Waffen gegeben, um gegen die Serben zu kämpfen. Jetzt richten sie die Waffen gegen uns.“

Schon am 1. Juli griffen die kroatischen zivilen und militärischen Behörden der Region zu scharfen Gegenmaßnahmen. In dem Bezirk Capljina, und nur dort, wurden alle wehrfähigen Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren zu den Waffen gerufen. Die Telefonleitungen wurden gekappt (auch für das Flüchtlingslager), die Grenze zu Kroatien für Ausländer geschlossen, eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Und die Muslimanen der Region, die schon seit Beginn des Krieges in den kroatischen Einheiten der HVO kämpften, mußten erkennen, daß die Waffenbrüderschaft gegen die Serben endgültig beendet war. Ihnen wurden die Waffen abgenommen, viele von ihnen wurden verhaftet und interniert.

Die beiden muslimanischen Frauen im Flüchtlingslager von Cap Anamur in Capljina wirken, obwohl erst Ende 20, verhärmt. Die Spuren der Ereignisse des letzten Jahres sind ihnen ins Gesicht geschrieben. Nach der Flucht aus Stolac, zu Beginn des Krieges, als die Serben das linke Ufer der Neretva eroberten und sogar Mostar einnehmen konnten, flohen sie mit ihren Männern hierher nach Capljina. „Damals haben wir alles verloren.“ Die Männer reihten sich bald ein in die HVO und schlugen die „Tschetniks“ zurück. Schon im Juni/Juli 92 wurde Mostar wieder befreit. „Seit über einem Jahr kämpften sie Seite an Seite mit ihren kroatischen Freunden“, sagt eine der Frauen. „Niemals war es zu Schwierigkeiten oder Reibereien gekommen“, doch auf einmal sei alles anders. Ihre Männer wurden am 1. Juli aus dem Lager Capljina heraus verhaftet. Seither fehlt von ihnen jede Spur. Die Zurückgebliebenen können nur vermuten, daß sie in den Gefangenenlagern in Gabela oder Tretelj sind. Besuche seien nicht erlaubt.

In der Stadt gibt ein westherzegowinisch-kroatischer Soldat Auskunft. Über 2.000 Leute „haben wir jetzt festgesetzt“. Es dämmert schon, und die Straße, die nach Tretelj, einem Vorort Capljinas, führt, ist streng bewacht. Überall stehen Bewaffnete herum. Doch noch ist es möglich, am Lager vorbeizufahren. Es sind lediglich einige Gebäude zu sehen, die schon vor einem Jahr der rechtsradikalen und jetzt in der HVO aufgegangenen Milizenorganisation HOS als Gefangenenlager dienten. Ohne Erlaubnisschein sei nichts zu machen, bedeuten die Wachen. Und um den zu bekommen, sei es zu spät. Der Sprecher der HVO, Veso Vegar, bestätigt aber, daß über tausend muslimanische HVO- Kämpfer interniert worden sind.

Die Behörden in Capljina scheinen den eingeschlagenen Kurs sogar verschärfen zu wollen. Am letzten Samstag erklärte Vizebürgermeister Kordić offen, nicht nur die muslimanischen Flüchtlinge, sondern auch die alteingesessenen Muslimanen hätten aus der Gegend zu verschwinden. Das klingt fast wie eine Aufforderung an kroatische Heißsporne, die „ethnische Säuberung“ selbst in die Hand zu nehmen. Die Übergriffe auf muslimanische Einwohner der Stadt mehren sich seitdem. Am Montag wurde eine Mutter zweier Kinder von Bewaffneten aus ihrer Wohnung geworfen. Muslimanische Jugendliche trauen sich kaum noch auf die Straße, einige wurden brutal zusammengeschlagen.

„Sie haben unsere Leute in Mostar hingeschlachtet, warum sollen wir hier mit ihnen zusammenleben.“ Der HVO-Soldat wird auch nicht unsicher, als er daran erinnert wird, daß es seine ehemaligen Kameraden seien, die jetzt verhaftet wurden. Alle Mitglieder der „feindlichen Gruppe“ werden gleichermaßen für die wirklichen oder angeblichen Verbrechen der „anderen Seite“ verantwortlich gemacht. „Die Individualität verschwindet, was zählt, ist die nationale Zugehörigkeit“, seufzt sogar ein kanadischer Kroate, der freiwillig dem Staate „Herceg-Bosna“ dient. „Hier wird eine Kollektivschuld kreiert.“ Für Veso Vegar, dem HVO-Sprecher, ist der Konflikt zwischen Muslimanen und Kroaten jetzt nicht mehr lösbar. „Es ist Krieg, und damit gibt es im Augenblick keine Möglichkeit, Brücken zu schlagen.“

Für die Gefangenen in Gabela und Tretelj kann diese Erkenntnis tödlich sein. Und die muslimanischen Flüchtlinge im Lager von Cap Anamur in Capljina halten Nacht für Nacht den Atem an.