Verfolgung, Folter, Mißhandlung und Mord

■ Der Jahresbericht von amnesty international zieht eine vernichtende Bilanz der Menschenrechtslage weltweit / „Doppelmoral“ der Regierungen

Genf (taz) – Den wohlklingenden Erklärungen der vor zwei Wochen beendeten Wiener Weltmenschenrechtskonferenz der UNO stellt „amnesty international“ heute mit ihrem „Jahresbericht 1993“ die harte Realität entgegen: Die Folter und Mißhandlung von Gefangenen war 1992 in 110 der 186 UNO-Mitgliedsstaaten an der Tagesordnung.

In 62 Ländern – so der Bericht, der heute veröffentlicht wird – wurden Frauen und Männer wegen ihrer politischen und religiösen Überzeugung oder wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit manchmal jahrelang ohne Gerichtsverfahren inhaftiert. Und in 45 Staaten wurden Oppositionelle Opfer „staatlichen Mordes“. Für die Bundesrepublik Deutschland werden in dem Bericht „rassistisch motivierte Mißhandlungen durch Polizei und Sicherheitskräfte“ festgestellt. Wobei der in der internationalen ai-Zentrale in London erstellte Jahresbericht in seinem Deutschlandkapitel zur Unzufriedenheit der deutschen ai- Sektion zu milde ausfiel.

Den Regierungen wirft ai „Doppelmoral“ vor. Sie führen fort, „der Politik einen höheren Stellenwert einzuräumen als Menschenleben“. Die Wiener Menschenrechtskonferenz habe „lediglich die Prinzipien der Vergangenheit bestätigt, anstatt sich mit den gegenwärtigen Mißbräuchen und den drohenden Gefahren auseinanderzusetzen“. Ob die Konferenz einen „Einfluß auf das Leben von Menschen“ haben werde, müßten „die Regierungen erst noch beweisen“.

Der Jahresbericht dokumentiert Menschenrechtsverletzungen in 161 Staaten. In Asien stelle ai „kaum Anzeichen“ für eine Verbesserung der Situation fest. Todesstrafen, Folter, unfaire Gerichtsverfahren, Verschwindenlassen oder staatlicher Mord gehörten „zur täglichen Routine“. Allein für China liegen ai für 1992 verläßliche Informationen über die Verhängung von 1.891 Todesurteilen und den Vollzug von 1.079 Hinrichtungen vor. Auf Basis „inoffizieller Quellen“ geht ai davon aus, daß die tatsächlichen Zahlen noch „weit höher liegen“. In Indonesien, Burma, Sri Lanka und auf den Philippinen wurden Regimekritiker und Oppositionelle „weiterhin systematisch ermordet“. In Kambodscha seien die Hoffnungen auf das von der UNO vermittelte Friedensabkommen durch politisch motivierte Morde und Massaker im Vorfeld der Wahlen „erschüttert worden“. Auch in den Konfliktregionen Indiens seien „Hunderte“ Oppositionelle ermordet worden. In indischen Polizeistationen wurde „systematisch gefoltert und vergewaltigt“.

Obwohl immer mehr Länder in Afrika zu einem Mehrparteiensystem übergingen, sei die Zahl der Menschenrechtsverletzungen auf diesem Kontinent 1992 „erschreckend hoch geblieben“. In 14 Ländern – darunter Angola, Tschad, Sierra Leone, Sudan und Zaire – seien Tausende schutzloser Frauen, Kinder und Männer „von Regierungskräften massakriert“ worden. Auch in Südafrika waren die Sicherheitskräfte „weiterhin in politisch motivierte Morde verwickelt“. Nach dem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung in Somalia „töteten, vergewaltigten und verstümmelten rivalisierende politische Gruppen wahllos Zivilpersonen. Für Angola, Sudan und einige andere Staaten Afrikas stellt ai auch Morde und Folterungen durch „bewaffnete Oppositionsgruppen“ fest.

Die meisten Regierungen in Lateinamerika hätten es unterlassen, die Verantwortlichen in Polizei und Armee für die nach wie vor zahlreichen Fälle „staatlichen Mordes und des Verschwindenlassens von Personen zur Rechenschaft zu ziehen“, fährt der Bericht fort. In El Salvador, Brasilien, Kolumbien, Guatemala und Peru hätten reguläre Streitkräfte, paramilitärische Gruppierungen oder Todesschwadrone Tausende von Menschen, darunter Hunderte von Straßenkindern und „sozial Unerwünschten“ umgebracht und seien durch weitgehende Amnestiegesetze vor Strafverfolgung geschützt worden.

Systematische Folter und „grausame Körperstrafen“ an Tausenden von Menschen hält der Bericht für den Iran, Irak und andere Staaten im Mittleren Osten fest. Im Iran wurden 1992 330 Menschen – zumeist Gewissensgefangene – hingerichtet. Im Irak verschwanden seit 1988 etwa 100.000 KurdInnen.

Europa ist laut ai 1992 „zu einem Schauplatz schwerer Menschenrechtsverletzungen geworden“. Für die Greueltaten in Bosnien-Herzegowina seien „alle beteiligten Kriegsparteien verantwortlich“, die Mehrheit der Opfer allerdings seien muslimische Frauen, Kinder und Männer und die Mehrzahl der Täter „serbische Soldaten und Freischärler“. In den Bürgerkriegen in Aserbaidschan, Tadschikistan und in anderen Gebieten der Ex-Sowjetunion seien „Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit gefoltert, vergewaltigt und massakriert“ worden. Für Frankreich, Italien, Portugal, Spanien, Rumänien, Bulgarien und Deutschland verzeichnet der ai- Bericht einen „Anstieg der Berichte über teilweise rassistisch motivierte Folterungen und Mißhandlungen durch die Polizei und Sicherheitskräfte“. In der Türkei war die Folter 1992 „weit verbreitet“. Die Zahl der „extralegalen Hinrichtungen“ im mehrheitlich kurdischen Südosten der Türkei sei „beträchtlich angestiegen“.

Die Rettung vor solchen Praktiken durch Flucht wurde laut ai 1992 „erheblich erschwert“ – auch durch die neuen Asylgesetze und -abkommen der EG-Staaten und ihre „immer restriktivere Flüchtlingspolitik“. Andreas Zumach