„Eine Affekthandlung ist ausgeschlossen“

■ Interview mit dem Münchner Psychologen Georg Sieber, der bundesweit Polizei- und Sicherheitsorganisationen berät, zur psychischen Verfassung von GSG-9-Leuten

taz: Herr Sieber, wie beurteilen Sie das Vorgehen der Polizei im Falle Grams?

Sieber: Hier wurden vermeidbare Fehler gemacht. Zwar kann es passieren, daß Menschen Fehler machen. Aber wenn ein Einsatz gut geplant ist, bleiben nur wenige Fehlerquellen. In einem Standardfall wie diesem schreibt ein Polizist den Einsatzplan. Das beginnt bei Lagebeschreibungen, Zugriffsmaßnahmen und endet mit einer Schlußbesprechung. Auch die Einsatzmittel werden beschrieben. Das nennt man in alter militärischer Tradition Einsatzbefehl.

Der Ablauf wirkte aber eher zufällig als geplant ...

Weil er schlecht geplant war. Es fehlten elementarste Dinge wie zum Beispiel zwei Ambulanzfahrzeuge und Verpflegung. Ist doch klar, daß die Männer nach 48 Stunden nervös werden, wenn man sich nicht um ihre Verpflegung kümmert. Und das Wichtigste fehlte auch: ein Dokumentationstrupp, der den Tathergang verfolgt. Dann hätten wir jetzt mindestens drei Videofilme von dem Einsatz. Vielleicht wurde das sogar in böser Absicht gemacht, um eine spätere Rekonstruktion des Hergangs zu verhindern. Die haben nur einen Mann auf dem Stellwerk postiert, von dem aus man nichts sehen konnte. Ich kann nur sagen, für einen Betriebsausflug wäre die Planung ausreichend gewesen – für mehr auch nicht.

Wie kann es zu einer solchen Aneinanderreihung von Fehlern kommen?

Das kann nur dadurch entstanden sein, daß einer den Einsatzbefehl geschrieben hat, der keine Ahnung hatte.

Könnte der Mord an Grams, wenn es denn einer war, eine Rachereaktion gewesen sein? Wird in den Spezialeinheiten etwa systematisch ein Feindbild gezüchtet?

Das glaube ich nicht. Das war ein Standardfall. Ob das jetzt ein RAF-Terrorist war oder irgendein Krimineller, ist völlig egal. Die GSG-9-Leute üben diesen Routinefall zwei- oder dreimal im Monat, die spulen ihren Ablauf ab, egal, um wen es sich dreht.

Aber von der Bundeswehr weiß man, daß in der Ausbildung mit Feindbildern gearbeitet wird ...

Die Bundeswehr lebt von Feindbildern, die Polizei aber nicht. Die haben drei Begriffe: das polizeiliche Gegenüber, den Verdächtigen und den Täter. Das kann auch eine Oma sein.

Das bedeutet also, daß es keine spezielle RAF-Schulung in diesen Spezialeinheiten gibt?

Meines Wissens nicht. Ich bezweifle sogar, daß die GSG-9- Leute irgend etwas von der Deeskalationserklärung der RAF im letzten Jahr mitbekommen haben, es sei denn aus der Zeitung.

Wie sieht das Psychogramm einer solchen Kampfeinheit aus?

Die sind wie Ballettänzer, sind sportliche, von ihrer Konstitution her hochkonditionierte Leute – und durchschnittlich intelligent.

Kann sich in der Truppe während eines solchen Einsatzes eine eigene – unvorhergesehene – Dynamik entwickeln?

Ausgeschlossen. Das müssen die im Griff haben, das ist ihr Drill.

Werden sie auf solche Situationen vorbereitet, oder lernen sie nur, in drei Sekunden Häuser zu stürmen?

Natürlich werden sie vorbereitet. Sie lernen, sich ausschließlich auf ihren Auftrag zu konzentrieren– wie etwa Tennisspieler. Boris Becker wäre zum Beispiel ein guter GSG-9-Mann. Es ist sogar unwahrscheinlich, daß solche Leute während des Einsatzes anfangen, ihr Handeln zu reflektieren. Deswegen ist eine Affekthandlung ausgeschlossen. Ich glaube nicht an die Darstellung von Alexander von Stahl, daß da einer „durchgedreht“ haben könnte.

Sie schließen also eine Affekthandlung völlig aus?

Ja. Dafür spricht einerseits die Ungewißheit der Situation – die wußten zu diesem Zeitpunkt nicht mal genau, ob es sich um Grams handelte. Andererseits spricht die Kürze der Zeit dagegen – in einem Ablauf, der 20 Sekunden dauert, an dem über 20 Leute beteiligt sind, da können sie keinen Affekt empfinden. Das ist einfach nicht möglich. Schließlich handelt es sich um Spezalisten für Situationen, in denen von bestimmten Leuten eine Gefahr für Dritte ausgeht.

Bedeutet die Panne von Bad Kleinen das Ende der GSG 9?

Ich habe den Eindruck, daß sich die GSG 9 und ihr „Mythos Mogadischu“ überlebt haben. Schon bei dem Geiseldrama in Gladbeck wurden sie angreifbar. Es haftet diesen ganzen Sonderkommandos der Polizei immer etwas Zweifelhaftes an, weil der Staat offenbar nicht sicherstellen kann, daß sie unter kompetenter Führung stehen. Interview: Corinna Emundts