'Verslumt' das Viertel zum –Oberneuland der Alternativen'?

■ Betr.: taz vom 23.06 93, Drogenstrich: Teilerfolg oder De fizite

Wer einigermaßen verdiente, sich ein Eigenheim leisten konnte, zog Anfang der 70er Jahre in das mit 140 Millionen Steuergeldern sanierte Viertel. Oberneuland, nein, mit denen wollte man nichts zu tun haben. Da wohnten die Rechten, die Kapitalisten, die Absahner. Wir hier sind links, liberal, sozial. Ein paar Penner an der Ecke — schick! Ein paar flotte Prostituierte vor der Haustür — schick! Jede Menge Kneipen um die Ecke — schick! Höchste Restaurationsdichte in ganz Bremen - schick! Kultur gibt es satt. Mehr als die Hälfte des Kulturetats fließt ins Viertel — einfach super! Multikulturelle Szene — schick! Solange man profitieren konnte, war alles in Ordnung. Aber der Schein trügt, die Idylle ist längst brüchig. Der brutale Umverteilungskampf hinterläßt auch hier tagtäglich seine Spuren. Langjährige Mieter werden vertrieben, Wohnungen in Einzelzimmer aufgeteilt und lukrativ untervermietet. Die Mietpreise für gewerbliche Flächen steigen derartig, daß alteingessene kleine Geschäfte aufgeben mußten. Ein überdurchschnittlich hoher Prozentsatz von Akademikern lebt im Viertel von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe. Im Gegensatz zu Sozialhilfeempfängern aus Osterholz-Tenever oder Kattenturm konnte man im Viertel bisher sicher sein, nicht auf zusätzliche Einnahmequellen überprüft zu werden.

Jetzt geht die Angst um. Für viele ist der soziale Abstieg in den nächsten Jahren bereits vorprogrammiert. Und die Angst schlägt in Haß auf die vermeintlich Schuldigen um. Schuld sind die Drogensüchtigen und die vielen Ausländer. Wo haben die eigentlich das Geld für ihre Häuser her? Sind die nicht auch irgendwie im Drogengeschäft? Bei denen weiß man ja nie. Vielleicht sind das nur Einzelstimmen, aber sie werden lauter. Für die ach so liberalen Viertelbürger ist das Maß voll.

Auf der Beiratssitzung am 7.6.93 wurde vehement die Schließung der Drogenberatungsstelle in der Bauernstraße gefordert. Das von den Bürgerinitiativen benutzte Vokabular hätte dem Oberneuländer Beirat alle Ehre gemacht: Vertreibung, Zerschlagung, Kasernierung, Zwangsarbeit, der Schandfleck Sielwallkreuzung muß ausgeräuchert werden, sind nur einige Beispiele für das Niveau der Diskussion. Wir haben uns aufs Schärfste dagegen verwahrt, den derzeitigen gesellschaftlichen Druck auf die Ärmsten der Armen abzuwälzen. Es ist blanker Zynismus und der Gipfel an Menschenverachtung, wenn glauben gemacht werden soll, daß die Drogensüchtigen, die weniger an der Sielwallkreuzung stehen, die Kleindealer, die sich weniger in der Bauernstraße aufhalten, die Prostituierten, die nicht mehr in der Friesenstraße stehen, die Obdachlosen, die nicht mehr im Ostertorpark übernachten nicht mehr e x i s t i e r e n !

Daß sich der Innensenator auf dieses miese Spiel einläßt, ist aus seiner Position ja vielleicht noch nachvollziehbar, menschlich aber enttäuschend.

Diejenigen, die von Asozialen und Schmarotzern reden und bei jeder Gelegenheit Sozialverhalten einklagen, sollten sich mal überlegen, wo bei ihnen selbst eigentlich die Grenze zwischen sozial und asozial liegt. Sozialverhalten fängt erst da an, wo es einem selbst weh tut!

Anne Albers, Sprecherin des Sozialausschusses im Beirat-Mitte