Reduzierter Fleischesser

Berliner Label: Michael Bulgrin und sein „Metalmachinecrashrock“-Unternehmen Angry Fish  ■ Von Claudia Wahjudi

Früher, klar, war manches einfacher: Bock war Bock, Rock war Rock, und wer nicht „denen ihr Spiel“ spielen wollte, der machte seine eigene Klitsche auf. Doch seit sich die Erkenntnis durchzusetzen begonnen hat, daß Müsliladenbetreiber und Independent-Label-Besitzer vor dem Kapital gleich sind, seit auch gar mancher musikalische Kleingewerbetreibende sich zum mittelständischen Unternehmer gemausert hat, herrscht mittelneue Unübersichtlichkeit. Rock, quo vadis? Wo ist „My Generation“ geblieben? Was tun, wenn Kinder plötzlich mit großen Augen fragen: Papamama, was ist eigentlich „Independent“? Wir wissen das zwar auch nicht so genau, stellen aber von heute an in lockerer Folge Labelbetreiber aus Berlin vor.

Ein Jahr lang hat er Pause gemacht. Nach „baby...“, der 4-Track-CD von God's Acre, ließ Michael Bulgrin sein Label erst einmal ruhen. Acht Platten und ein T-Shirt hatte sein Einmannbetrieb seit 1989 herausgegeben – ohne durchschlagenden Erfolg.

Ein Risiko, das Bulgrin von vornherein in Kauf genommen hat – schließlich betreibt er ein sogenanntes Independent-Label, das heißt: sein Programm wählte er ohne Rücksicht auf den Markt strikt nach Maßstäben aus, die sich aus seiner Vorliebe für Verbindungen von Industrial und Metal, von Tanz und Gitarren entwickelt hatten. Im Programm von Angry Fish finden sich ein titelloses Live-Album der Band Rifle Sport (1989), das Iain Burgess abgemischt hat, die gefühlvoll ruhige „Dusk“ (1991) von Weather Theatre, eine LP der Industrierocker Defoliants – denen auch das T-Shirt gewidmet ist – und „Shroomanzied“ (1991) von der Berliner Truppe Alan Int., deren stoischer Krach bei Bulgrin unter „Metalmachinecrashrock“ formiert. God's Acre aus Chicago sind zweimal vertreten. Neben „baby...“ (1992) präsentiert Angry Fish „Ten Gospel Greats“ (1990), auf der das Langhaar-Trio unter Regie von Burgess jene sehnsuchtsvollen Blueslinien aufbaut, die es auf „baby...“ in zwei Stücken noch einmal ausformuliert, binnen zwei anderer Stücke aber genußvoll zertrümmert. Wenn diese Zusammenstellung auch kein geschlossenes System bildet – rote Fäden schimmern durch.

Doch neben der Genugtuung, getreu verblaßten Independent- Regeln eine Alternative zu den Geschmacksvorgaben der Großkonzerne angeboten zu haben, blieb Bulgrin auch ein beachtlicher Schuldenberg. Die Ansprüche an Originalität und rhythmische Kraft der Bands haben Angry Fish nicht vor den Mechanismen geschützt, die kleine Plattenfirmen zum Konkurs zwingen können. Gute Besprechungen und selbst eine Erwähnung in Spex beeinflussen die Verkaufszahlen kaum, und sollte sich eine Veröffentlichung tatsächlich einmal als überregionaler Treffer erweisen, müssen sich die Bands meist einen größeren Vertragsspartner suchen. Once upon a Time, damals noch ein Geheimnis aus Melbourne, wechselten nach ihrer ersten hiesigen Platte bei Angry Fish zu einem Hamburger Label.

Anderes Beispiel: Zusammen mit der finnischen Firma Stupido Twins hatte Bulgrin dann „Monk Punk“ von Waltari herausgegeben, 1991 in Deutschland noch eine Pioniertat. Auf den Weg nach oben vermochte Angry Fish das Quartett aus Helsinki allerdings nicht mehr zu begleiten. Die geringen Kapazitäten des Kleinstlabels waren den Anforderungen einer Band, die auf Europatournee wollte, nicht mehr gewachsen.

Vertriebsprobleme

Den Wechsel kann Bulgrin seiner Entdeckung darum kaum verübeln; aber der Umstand, daß Waltaris plötzlicher Erfolg keinen Gewinn mehr für Angry Fish abwarf, enttäuschte ihn dann doch. Zwar mußte „Monk Punk“ nachgepreßt werden, an den Stationen der großen Tournee aber versagte der Verteiler. Außerhalb Deutschlands, berichtet Bulgrin, sei die Platte nicht erhältlich gewesen. Trotzdem hält er einen Wechsel des Vertriebs für ausgeschlossen: Ein Label wie Angry Fish müsse dankbar sein, wenn es überhaupt einen der Vertreter für sich gewonnen habe. „Man gewöhnt sich dran“, kommentiert Bulgrin die Zwänge und lächelt noch dabei.

Harscher Kampfgeist liegt dem Dreißigjährigen ohnehin fern. Statt dessen versucht er, das Getümmel eines eiligen Betriebs zu vermeiden, in dem Kabale und Liebe die Verhandlungen bestimmen – und trotzdem, zumindest derzeit in Berlin, recht wenig passiert. Im letzten Jahr verzichtete Bulgrin deshalb sogar auf die Teilnahme an den Berlin Independent Days (BID).

Schließlich gibt es ein Leben außerhalb der Musik, wenn auch nicht ohne sie. Bulgrin gab seinen Job bei einer großen Berliner Werbeagentur auf, um sich als Grafiker selbständig zu machen, und entwirft seitdem Illustrationen für Statistiken, Firmenkataloge und Anzeigen, aber auch Plattenhüllen. Unter seinen Produkten finden sich Cover für Clock DVA, Malaria!, Jeff Mills und für die „Music for Toilets“ des Schöneberger Barkeepers Piers Headley. Sie zeichnen sich vor allem durch Sparsamkeit aus. Gern läßt Bulgrin tiefes Schwarz mit den Variationen einer einzigen Farbe kontrastieren. Vor diesem Hintergrund heben sich schlichte Schriftzüge und wenige abstrakte Formen ab – eine Klassifizierung der Musik über die bloße Ansicht der Verpackung ist unmöglich. Solch ein Versteckspiel pflegt Bulgrin auch mit Angry Fish. Während der Umschlag von „Dusk“ ganz jenem sachlichen Einfarb-Prinzip folgt, schmückt die CD von Alan Int. das Foto einer mexikanischen Kneipe, und übers Cover von „baby...“ trägt ein spitzmäuliges Geschöpf aus dem Aquarellpinsel des Bassisten einen Luftballon spazieren.

Süße Nudeln

Bulgrin sucht, was alle suchen: eine eigene, unverwechselbare Handschrift. Seine Zukunft sieht er in der Grafik „für den gehobeneren Anspruch“, ohne Angst zu haben, daß die Rezession diese Pläne vereiteln könnte: „Irgendwie läßt sich immer Geld verdienen.“ An den Traum vom Beruf, der Spaß und Gewinn vereint, mag er freilich nicht mehr glauben. Angry Fish mußte auch ruhen, weil Bulgrin von der Konzentration auf eine einzige Tätigkeit finanzielle Sicherheit erwartete.

Inzwischen ist über die Arbeit an den Covern aber auch der Wille wiedergekehrt, selbst Musik zu veröffentlichen. Im Herbst wird ein Album erscheinen, über dem Bulgrin zwei Jahre gebrütet hat und das er, nach kurzem, verlegenem Zögern, „sein Kind“ nennt: Eine Compilation mit sechzehn teils unveröffentlichten, teils raren Stücken von sechzehn verschiedenen Bands wie Pain Teen, Steel Pole Bath Tub, 18th Dye, Alan Int., The Mint und Cash Only. Die eigentliche Attraktion des Samplers aber ist das Kochbuch: Jede Gruppe hat ein Lieblingsrezept eingesandt, und der „reduzierte Fleischesser“ Bulgrin steuert die Backanleitung für einen süßen Nudelauflauf bei. Als Booklet, vom Label-Chef gestaltet, wird die Sammlung sowohl der pappverhüllten CD als auch der streng auf 600 Exemplare limitierten Doppel-10-Inch beigelegt, mit der Angry Fish der alten Grammophonplatte Ehre zollt.

Schließlich haben die Leute von Stupido Twins Angry Fish ein neue Zusammenarbeit angeboten, mit der sich die Schulden vielleicht ganz abtragen ließen. Doch als Aufforderung, mit erhöhter Geschwindigkeit ins Geschäft zurückzukehren, versteht Bulgrin diese Chance nicht. Die Kritik des Ex- Dead-Kennedy Jello Biafra wirkt noch nach: In seinem Brief, den die Post nach einem Jahr des Wartens just zu Weihnachten brachte, hatte der Kalifornier Angry Fish sanft getadelt, manche Bands zu früh veröffentlicht zu haben.