Angst um ein Hätschelkind

■ Der Schutz des hochmodernen ICE kostet die Deutsche Reichsbahn in diesem Jahr über 400.000 Mark / In der Sprayerszene werden angeblich schon hohe Wetten abgeschlossen

Für die Sprayer und Graffitikünstler der Republik ist er die Erfüllung eines Traumes, ein Orgasmus in Weiß, ein nach Farbe lechzendes Objekt: der neue Intercity- Express (ICE). Schon laufen innerhalb der republikweiten Szene Wetten. Wem es als erstem gelingt, seinen Schriftzug durch die Lande rasen zu lassen, dem winken zehntausend Mark. So zumindestens will es die Bahn aus Vernehmungen von gefaßten Sprühfanatikern gehört haben. Ob Protzerei oder Übertreibung, die Meldung wird ernst genommen.

Allein in Berlin gibt die Deutsche Reichsbahn (DR) für die Bewachung des Schnellzuges bis Ende dieses Jahres 440.000 Mark aus. Eine ganze Armee von Farbfetischisten bedroht das hochmoderne Spielzeug im Großformat. Immerhin gibt es in der Hauptstadt nach Schätzungen der Bahnpolizei rund 3.000 organisierte Sprayer, zusammen mit denen in Brandenburg sollen es gar 12.000 sein.

Das Nervenflattern bei den Verantwortlichen der DR beginnt zumeist nachts, wenn drei ICE- Züge in Berlin gewartet und gereinigt werden. Tagsüber haben Sprayer kaum eine Chance. Alle ICE- Züge, die bis 18.15 Uhr im Zoo einlaufen, wenden nach kurzer Wartezeit und fahren nach anderthalb Stunden wieder in Richtung Westdeutschland. „Wir hatten bislang Glück“, sagt Michael Fechner, Sicherheitsbevollmächtigter der DR-Hauptabteilung Nahverkehr.

Bis zum letzten Sonntag, als der erste ICE im Bahnhof Zoo einrollte, wurden die Spätzüge in Lichtenberg gewartet. Wer dort des Nachts ausstieg, fühlte sich in alte Zeiten der DDR-Grenzkontrolle zurückversetzt. Alle 50 Meter stand ein Uniformierter. „Wir haben in dieser Zeit auf der Autobrücke oberhalb des Bahnhofs Sprayer beobachtet, die sich einen Überblick über das Gelände verschafften“, rechtfertigt Fechner die martialische Maßnahme. Nun, da die Züge nicht mehr in den Ostteil fahren, ist der Betriebsbahnhof Grunewald Wartungsstation. Dort werden die 360 Meter langen Züge, deren Wagen wegen der komplizierten Technik nur schwer auseinandergekoppelt werden können, rund um die Uhr bewacht.

Das Bahngelände selbst gilt bei den DR-Sicherheitsexperten zwar als „gut überschaubar“. Sorge bereitet allerdings die Umgebung mit den vielen Kleingärten und Schuppen. „Da ist ein Heranschleichen schon möglich“, meint Fechner. Besondere Sicherheitsanlagen wie Stacheldraht, Kameras oder Lichtschranken sind jedoch vorerst nicht geplant. Wieviel Männer und Frauen des privaten Wachunternehmens „B.O.S.S.“ auf die Züge ein Auge werfen, bleibt ein streng gehütetes Geheimnis. Das Thema sei „sehr heikel“ und man wolle „schlafende Hunde nicht wecken“, so DR-Sprecherin Barbara Kraszke. Fechner will nur verraten, daß insgesamt 25 Mitarbeiter „an die ICE-Bewachung gebunden werden“.

Zum Lustobjekt der Sprayerszene wurde der Zug zum ersten Mal im vergangenen Jahr, als er im Rahmen einer Publicity-Kampagne in Lichtenberg präsentiert und dort auch abgestellt wurde. Nur eine Nacht hätte ausgereicht und „schon waren sie mit der Spraydose an den Wagen dran“, so Fechner. Man habe das „Graffitiproblem“ damals „völlig unterschätzt“, gesteht er die anfängliche Blauäugigkeit der DR ein. Die Angst um das Hätschelkind der Bahn wird noch einige Jahre dauern. Erst 1997 soll in Rummelsburg eine spezielle ICE-Halle fertig gebaut sein. Bis dahin ist die Bahn für ihren weißen Riesen, der als potentieller Exportschlager gerade auch ausländischen Gästen und Touristen sauber präsentiert werden soll, sogar bereit, von ehernen Prinzipien abzurücken. Notfalls soll selbst die Abfahrtszeit verschoben werden, falls ein Sprayer kurz vor Abfahrt des ersten Zuges am frühen Morgen seine Marke hinterlassen hat. „Lieber nehmen wir ein paar Minuten Verspätung in Kauf, als den Graffiti-Sprayern einen Erfolg zu gönnen“, lautet die Kampfansage des Sicherheitsexperten Fechner. Severin Weiland