Die unendliche Sanftheit des Sports

Der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) wollte nach der Wahl eines neuen Präsidiums den Neuanfang, muß sich aber nach der Ehrlichkeit seines Ansinnens fragen lassen  ■ Von Cornelia Heim

Berlin (taz) – „O wer sich einmal auf den Kopf sehen könnte! Das ist eines von meinen Idealen.“ So wie Georg Büchners Leonce würden wohl liebend gerne einige Damen und Herren zwecks der Erhellung, die gemeinhin von oben kommt, ihre körperlichen Hüllen ab und an verlassen. Was sie dabei sehen würden? Auch nicht viel mehr, als Georg Büchner 160 Jahre vorher schon zu Papier brachte – die Unmöglichkeit der Selbsterkenntnis.

Man möchte fast behaupten, Büchners Fatalismus der Geschichte habe auch die Funktionäre der deutschen Leichtathletik ereilt. „Es ist ein Gefühl des Bleibens in mir, das mir sagt, es wird morgen sein wie heute, und übermorgen und weiter hinaus ist Alles wie eben“, läßt der Autor Danton kurz vor dessen Tod philosophieren.

Es wird morgen sein wie heute! Dabei sollte doch alles ganz anders werden, im Schlüsseljahr 1993. Hans Hansen, der oberste deutsche Sportfunktionär, sprach am 25. April dieses historischen Jahres 1993 optimistisch von einer „Zäsur für diese herausragende olympische Sportart“.

Es war die Stunde, in der sich in Darmstadt der Deutsche Leichtathletikverband (DLV) eine neue Führung gegeben hatte. Ein Professor löste „Leistungs-Macher“ Helmut Meyer ab. Der Soziologe Helmut Digel, der sich als Sportwissenschaftler nie in den Elfenbeinturm zurückgezogen hatte, Funktionärsherrlichkeit, Doping und andere Mißstände vehement kritisierte, entschied, sich selbst an die Spitze dieses maroden Verbandes zu setzen.

Und das ausgerechnet zu einer Zeit, in der Eingeweihte wie der frühere Schatzmeister Jochen Appenrodt der Leichtathletik bescheinigten, sie stecke in der dicksten „Krise der Gesinnung“. Helmut Digel wußte wohl, daß die „Perspektive des Scheiterns groß ist“ (Stuttgarter Zeitung). Noch am Tage seiner Wahl gestand der 49jährige, er wisse nicht, ob er das Richtige getan habe: „Diese Welt ist mir doch zu fremd.“

Von Aufbruchstimmung keine Spur. Womit wir wieder bei Herrn Büchner und seinem Protagonisten Danton wären: „Wir haben nicht die Revolution, die Revolution hat uns gemacht.“ Nun ist es nicht ganz leicht einzusehen, was die Französische Revolution mit der heutigen Sportpolitik gemein haben könnte. Doch scheint zumindest das Gefühl der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins an ein bestimmtes System, gestern wie heute verbreitet zu sein: „Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen, nichts, nichts wir selbst.“ Menschen alleine steuern die Welt nicht mehr.

„Sanfter Leistungssport“ sollte den Start in eine neue (Sport-)Welt ermöglichen. Was man sich unter einem sanft betriebenen Sport vorzustellen habe? Ein „ethisch relativiertes Leistungsstreben“, meint der neue Sportwart Rüdiger Nickel, der unter der Ägide von Helmut Meyer, welcher Doping lange Zeit als „Kavaliersdelikt“ betrachtete, damit betraut war, im Dopingsumpf nach Übeltätern zu graben.

Sanfter Leistungssport aber ist als Begriff ähnlich diffus wie sanfter Tourismus. Er impliziere den „Verzicht auf einige Medaillen“, sagt Nickel, doch die Einführung einer neuen, dopingbereinigten Rekordliste scheiterte bereits am Tage des Neuanfangs.

Digel versprach „eine größere Nähe zu den Athleten“ sowie neue Qualifikationskriterien. „Wir können nicht sauberen Sport fordern und Normen festlegen, die ohne Betrug nicht zu erreichen sind“, erklärte er in einem Interview der Woche. Fakt aber ist, daß wer sich für die WM in Stuttgart qualifizieren will, die IAAF-Normen erfüllen muß. Fakt ist auch, daß Herr Digel mit der Sanftheit seines Sports nicht mehr allzuviel anfangen kann: „Wir wollen Spitzensportler und keine Softies.“

„Das Gewissen ist ein Spiegel, vor dem ein Affe sich quält.“ Wir kommen einfach von Büchners Danton nicht los. Recht gewissenlos handelte jedenfalls der Deutsche Sportbund (DSB), indem er Ende Juni beschloß, eine Verwicklung in Doping-Praktiken vor der Wiedervereinigung solle künftig für eine Anstellung ohne jegliche Folgen bleiben.

Diese Doping-Amnestie begrüßten die neuen DLV-Herren (der Damen gibt es nur zwei: Gudrun Löffler, Beauftragte für die neuen Länder sowie Ex-Olympiasiegerin Heide Ecker-Rosendahl, Beraterin mit noch zu definierender Aufgabe). Helmut Digel: „Es müssen Brücken gebaut werden.“

Andere fanden diese Abkehr von einer ehrlichen Vergangenheitsbewältigung gar nicht so toll. So Hans Evers, der Vorsitzende der Anti-Doping-Kommission, der zwei Jahre Beweismaterial zusammengetragen hatte: „Nachträglich ist unsere Arbeit überflüssig geworden.“ Und auch DSB-Vize Manfred von Richthofen bemängelte: „Ich hätte mir die Aufarbeitung anders vorgestellt in bezug auf eine Zeichensetzung im Westen.“

So unterschreiben die Osttrainer ein Papierchen, daß sie fortan geloben, ohne chemische Keule ihr Handwerk zu betreiben, und die im Westen sind fein raus, denn von Doping in der alten Bundesrepublik ist mal wieder nicht die Rede.

Wie war das doch gleich mit dem Affen, der sich quält? – na, Sie wissen schon, Blick in den Spiegel, Gewissen und so.