■ Historisches
: Walter Benjamin an Theodor W. Adorno

Lourdes, 2.8.40

Mein lieber Teddie,

über Ihren Brief vom 15. Juli habe ich mich aus mehreren Gründen sehr gefreut. Einmal war es Ihr freundliches Gedenken des Tags; dann das Verständnis, das aus Ihren Zeilen hervorging. Nein, es ist mir wirklich nicht leicht, einen Brief zu schreiben. (...) Es steht aber, wie Sie wissen, so, daß ich meinen Schriften gegenüber nichts voraus habe. Von einem Tag auf den andern können die Maßnahmen, die im September über mich hereinbrachen, sich wiederholen, nun aber mit ganz anderm Vorzeichen. Ich habe in den letzten Monaten eine Anzahl von Existenzen von dem bürgerlichen Dasein nicht etwa absinken sondern von einem Tage auf den andern abstürzen sehen; so daß jede Sicherung mir, neben dem problematischen äußern einen minder problematischen innern Halt gibt. In diesem Sinne habe ich das Dokument „à ceux qu'il appartient“ mit wahrer Dankbarkeit in die Hand genommen. Ich könnte mir vorstellen, daß der Briefkopf, der mich freudig überrascht hat, die etwaige Wirkung des Schriftstücks nachhaltig unterstützt.

Die völlige Ungewißheit über das, was der nächste Tag, was die nächste Stunde bringt, beherrscht seit vielen Wochen meine Existenz. Ich bin verurteilt, jede Zeitung (sie erscheinen hier nur noch auf einem Blatt) wie eine an mich ergangene Zustellung zu lesen und aus jeder Radiosendung die Stimme des Unglücksboten herauszuhören. Mein Bestreben, Marseille zu erreichen um dort beim Konsulat meine Sache zu plädieren, war umsonst. Für den Ausländer ist seit längerm keine Ortsveränderung zu erwirken. So bleibe ich auf das angewiesen, was Ihr von draußen bewirken könnt. (...) Meine Befürchtung ist, die uns zur Verfügung stehende Zeit könnte weit begrenzter sein als wir annahmen. Und obwohl ich vor vierzehn Tagen an eine solche Möglichkeit nicht gedacht habe, haben neue Auskünfte mich bestimmt, Mme Favez zu bitten, durch Intervention von Carl Burckhardt, wenn irgend möglich, einen interimistischen Aufenthalt in der Schweiz mir bewilligen zu lassen. Ich weiß, daß von Hause aus vieles gegen diesen Ausweg spricht: aber es spricht ein mächtiges Argument dafür: die Zeit. Wäre dieser Ausweg nur zu realisieren! – Ich habe mich in einem Briefe an Burckhardt gewandt.

Ich hoffe, daß ich Ihnen bisher den Eindruck gegeben habe, auch in schwierigen Augenblicken gefaßt zu bleiben. Glauben Sie nicht, daß sich das geändert hat. Aber ich kann mich dem gefährlichen Charakter der Lage nicht verschließen. Ich fürchte, die, die sich aus ihr haben retten können, werden eines Tages zu zählen sein. (...)

Es ist mir eine große Beruhigung, daß Sie in New York sozusagen „erreichbar“ und im eigentlichen Sinne wachsam bleiben. In Boston, Commonwealth Avenue 384 lebt Mr Merril Moore. Er ist von Mrs W Bryher, der Herausgeberin von Life and letters to-day mehrfach auf mich hingewiesen worden, hat wahrscheinlich einen Begriff von der Lage und den Willen zu ihrer Veränderung beizutragen. Ich denke, es könnte von Wert sein, wenn Sie sich mit ihm in Verbindung setzen. (...)

Bitte richten Sie Herrn Pullock den aufrichtigsten Dank und die freundlichsten Grüße aus.

Und nehmen Sie alles Liebe von IhremWalter Benjamin

PS Verzeihen Sie die peinlich komplette Signatur; man verlangt sie.

Ausgewählt von Isabel Nieto