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Nötiger „Ernstdiskurs“

Wenn deutsche Intellektuelle über die deutsche Nation reden – im Licht der Feuer von Rostock-Lichtenhagen bis Solingen  ■ Von Jörg Lau

Wie auch immer man die deutsche Gegenwart charakterisieren will, sie ist ein miserabler Nährboden für die Ironie. Der Diskurs, der unter Titeln wie „Nachdenken über Deutschland“ geführt wird, entspricht zu weiten Teilen einem Typus, den Karl Heinz Bohrer in einem Beitrag des vorliegenden Bandes (vgl. auch taz vom Samstag, 20.3.1993) den deutschen „Ernstdiskurs“ über das Nationale nennt. Wer sich jedoch in Zeiten wie diesen, in denen eine kaum noch begriffene rechtsnationale Gewalt dem Reden über Deutschland einen ganz unmetaphorisch blutigen Ernst abnötigt, über solchen Ernst beklagen möchte, kommt fast automatisch – und völlig zu Recht – in den Ruf intellektueller Frivolität. Daran – daß man heute dem deutschen Ernstdiskurs nicht entgehen kann – zeigt sich das ganze Ausmaß der politisch- kulturellen Misere hierzulande. Dabei wäre die weitere Ironisierung der deutschen Identität ja äußerst wünschenswert; der Prozeß war am Ende der alten Bundesrepublik schon erstaunlich weit gediehen. Aber es wirkt leider merkwürdig hilflos, nach Moelln und Solingen darauf hinzuweisen, daß die deutsche Identität im Ursprung eine Erfindung von Ausländern ist: Zuerst nannten italienische Kanzlisten des Mittelalters die fremden Stämme, die um das Jahr 1000 durch ihr Land zogen, vereinheitlichend „Teutonici“.

Begriffsgeschichte solchen Typs ist etwas für glücklichere Zeiten. Die Autoren des von Siegfried Unseld initiierten Bandes „Politik ohne Projekt?“ vereint wenig außer der Diagnose einer Krise, die in dieser Hinsicht nicht viel hoffen läßt. Nehmen wir zum Beispiel den Philosophen Manfred Frank, der mit seiner Rede „Aus Anlaß der Kommemoration der Reichspogromnacht vom 9. November 1938“ einigen Aufruhr erregte. Frank nutzte die Stunde zu einer drastischen Intervention in die Debatte um die Änderung des Artikels 16 GG, indem er die populistische Instrumentalisierung des gesunden Volksempfindens am Ende des Jahres 1992 – nach Rostock! – mit der symbolischen Politik, der Pogromvorbereitung, des Jahres 1938 in Verbindung brachte. Selten hat man bei dergleichen hochoffiziellen Anlässen aus Professorenmund solche Wut und Enttäuschung über eine politische Klasse vernommen, die sich opportunistisch an die vox populi anschmiegt. Das war wohl das eigentlich Unerträgliche der Rede, nicht die Parallelisierung der Pogrome, die ihm als historische Fahrlässigkeit angekreidet wurde. Hätte Frank denn vielleicht den Anlaß seiner Rede verschweigen sollen? Er hatte, wie jeder nachlesen kann, nicht aus der sterilen Aufgeregtheit des ewigen Protestlers gesprochen, sondern aus einem durch und durch verfassungskonservativen Motiv: Wer Grundrechte wie das Recht auf politisches Asyl aushöhlt oder abschafft, zerstört die Grundlage der Legitimität unserer Verfassung. Ironie der deutschen Lage: Während diejenigen, die bis vor kurzem die unbedingte Treue zur Verfassung als politisches Kampfmittel instrumentalisierten, nun an eben dieser Verfassung herummodeln, stellen sich ihre Opponenten, unter denen einst mindestens Spott über die „FDGO“ zum guten Ton gehörte, als die wahren Verfassungspatrioten heraus.

Einigen der Beiträge ist die Turbulenz der Zeitläufte anzumerken, in denen sie entstanden sind; manchen allerdings nicht – unter der vom Titel vorgegebenen Fragestellung ist das ein Unterschied ums Ganze. Jürgen Habermas schreibt, die alte Bundesrepublik habe sich „während der letzten drei Monate des Jahres 1992 mental tiefgreifend und schneller verändert als in den vorangehenden eineinhalb Jahrzehnten. Zufällig mußte ich Deutschland noch vor Rostock und Petersberg verlassen – nach eineinhalb Monaten Abwesenheit war es nicht wiederzuerkennen.“ Vor diesem Hintergrund kann man sich nur über den Habitus des unerschütterlichen Besserwissers wundern, mit welchem die Systemtheoretiker Niklas Luhmann und Helmut Willke uns noch einmal ihre nicht mehr ganz frische Kernthese von der Kontingenz des Politischen vorlegen. Der Ton kecker Ungerührtheit, mit dem hier noch einmal „der Mythos vom gesellschaftlichen Primat der Politik“ gebrochen werden soll, nährt den Verdacht, daß das ausgefeilte theoretische Vokabular eine Naivität zweiter Ordnung kaschiert. Muß die Sozialwissenschaft sich auf die Fahne schreiben, was der politische Alltag schon allzu gründlich besorgt?

Der Althistoriker Christian Meier will, wie es seinem Beruf entspricht, die Politik ermutigen, statt sie zu dekonstruieren; er redet jener Normalisierung Deutschlands das Wort, die Habermas für eine „zweite Lebenslüge“ hält: Die kommende „Berliner Demokratie“ soll „eine ganz normale Nation innerhalb eines allmählich zusammenwachsenden Europa“ werden. Wer, wie die Mehrzahl der Post- 68er-Generation, nach langer Skepsis mit dem „Modell Deutschland“ in einem Punkt seinen Frieden gemacht hat – seine politische Kultur war (scheinbar?) unumkehrbar postnational –, kann sich nur wundern, mit welcher Leichtigkeit solche Errungenschaften heute verjubelt werden.

Der Philosoph Wilhelm Schmid meldet da Widerspruch an. Nicht die fatale Semantik der deutschen Nation gehört auf die Tagesordnung, sondern das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht von 1913, jenes halbbarbarische ius sanguinis, dem wir die Situation zu verdanken haben, daß hierzulande Zuwanderer in der dritten Generation immer noch Ausländer heißen. Und was den geringen Wallungswert dieses sachlichen Diskurses gegenüber der pathetischen Rede über die Nation angeht – da mag Karl Kraus das letzte Wort haben, der im August 1931 zur Frage der „nationalen Ehre“ schrieb: „Vaterland ist die Summe von Landschaft und Menschentum, von der wir durch Geburt oder Gewöhnung umgeben sind; Staat ist Einmischung in dieses Verhältnis, und sein Anspruch auf Beteiligung am Sentiment werde mit jener Kälte abgewiesen, die das Stigma unpatriotischer Gesinnung als geistige Ehre annimmt.“

Siegfried Unseld (Hg.): „Politik ohne Projekt? Nachdenken über Deutschland“. Suhrkamp Verlag 1993, 493 Seiten, 24 DM

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