Lernen in der Schule des Gipfels

■ Der Musterknabe aus Amerika ließ die Regierungschefs auf den Stühlen zappeln

Tokio (taz) – Der pompös im Stil des französischen Absolutismus entworfene „Vögel- und Blumensaal“ im Tokioter Akasaka Palast war nicht wiederzuerkennen. Die Gastgeber hatten den Raum als schlichtes Arbeitszimmer hergerichtet. Dort saßen die Staats- und Regierungschefs der sieben reichsten Industrieländer nun drei Tage lang wie in einem Schulzimmer und gaben sich studierfreudig. Den Herrn Lehrer kurz vor der Pensionierung spielte Kiichi Miyazawa. Schließlich war Japans Premierminister der Zweitälteste in der Runde, dem nur deshalb die Autorität fehlte, weil noch kein japanischer Regierungschef vor ihm sie besessen hatte. Hinzu kam diesmal freilich, daß seine Regierung kurz zuvor vom Parlament entmachtet worden war.

Miyazawa aber war immer noch fit genug, zum Ende des Unterrichts die gemeinsam erarbeitete Abschlußerklärung vorzulesen. Stolz darauf, weil es vermutlich sein letzter Staatsakt war, hob er den Zeigefinger: „Bedenkt, daß die G-7-Nationen enorm großen Problemen begegnen.“

Der Musterschüler konnte eine solche Aufforderung nicht unbeantwortet lassen. Neue Ideen und Lösungsansätze, Gruppenmotivation und Arbeitsansporn – das alles ging in drei Tagen hoher Staatsschule auf das Konto von Bill Clinton. Mit jeder Handbewegung schien der amerikanische Präsident seine Kollegen gleichzeitig zu umarmen und zur Entschlossenheit aufzufordern. Konnte er nicht auch mit seinem Plan für die Verringerung des Staatsdefizits die besten Hausaufgaben ausweisen: „Zum ersten Mal seit 1980 hat sich ein solcher Gipfel nicht kritisch über die amerikanische Haushaltspolitik geäußert“, betonte sein Sprecher am Freitag.

Soviel Schwung und Beweglichkeit brachte der Gipfel-Newcomer Clinton nicht zuletzt in die steifen Photosessions, daß seine dienstälteren Mitschüler Kohl und Mitterrand wie zwei gelangweilte Obertertianer dastanden. Immer wenn der junge Blonde am Arbeitstisch beamte und bohrte, während der brave Lehrer nickte, blickten der Deutsche und der Franzose ins Leere und rührten sich nicht. Wie im zehnten Schuljahr jeder Schüler den Lehrer boykottiert, schienen Kohl und Mitterrand mit jeder Geste den Gipfel zu entwerten. „Nach zehn Jahren Erfahrung war die freundschaftliche Atmosphäre in Tokio alles andere als selbstverständlich“, spottete der Zyniker Kohl anschließend und konnte sich den Zusatz nicht verkneifen: „Zumal nur vier von uns schon vorher dabei waren.“

Wer von den Sieben auch nächstes Jahr noch dabei sein wird, ließ sich rasch erraten. Großbritanniens Premierminister John Major wippelte so häufig auf seinem Stuhl, daß seine Nervosität die Atmosphäre offensichtlich störte. Zu den Sitzenbleib-Kandidaten zählten aber auch Italiens Premier Carlo Ciampi und die neue kanadische Regierungschefin Kim Campbell. Ciampi lud gestern zum nächsten Gipfel 1994 nach Neapel ein, eine Stadt, wo bekanntlich unvorhersehbar ist, wer regiert. Kim Campbell aber zeigte sich immerfort lächelnd am Arbeitstisch – ein bißchen zu schön, um erfolgreich zu sein.

Wie aber lauten nun die Arbeitsergebnisse der G-7-Schule? „Herzlichen Dank für Ihre Mitarbeit“, beendete Kiichi Miyazawa gestern die Debatten. „Bitte entschuldigen Sie unsere Unzulänglichkeiten.“ Die Worte sollten sagen: Bitte entschuldigen Sie, daß wir die Welt, so wie sie ist, nicht regieren können. „23 Millionen Menschen sind in unseren Ländern arbeitslos: Das ist inakzeptabel“, schrieben die Sieben in ihre Abschlußerklärung. Sollte man danach tatsächlich noch Handlungsvorschläge erwarten können? „Wir sind keine Weltregierung,“ beharrte François Mitterrand.

Wohl hätten die erfahrenen Gipfelreisenden aus Paris und Bonn jener neuen Schulgründung im G-7-Rahmen ihre Zustimmung entziehen können – doch was hatten sie dem Eifer Clintons schon entgegenzusetzen? Also findet nun im Herbst in Camp David der „Gipfel der Arbeitslosigkeit“ statt, an dem die Finanz- und Arbeits- beziehungsweise Sozialminister der G-7-Gruppe teilnehmen werden. Kohl nannte das Vorhaben süffisant eine „besondere Konferenz“. Dort, so der Bundeskanzler, werden die Teilnehmer das Thema Arbeitslosigkeit „prüfen, diskutieren und wenn möglich auch praktische Lösungsvorschläge erarbeiten“. Wobei sein „wenn möglich“ klang, als wenn in Camp David nichts möglich wäre.

François Mitterrand hingegen nutzte den Eifer Amerikas für seine ideologischen Witzchen: „Viele haben die Arbeitslosigkeit bisher als zweitrangiges Problem solcher Treffen gesehen“, erinnerte der französische Präsident an den neoliberalen Geist vergangener G-7-Tage mit Margaret Thatcher und Ronald Reagan. „Das langsame Hinübergleiten vom Ökonomischen zum Sozialen ist sehr wünschenswert. Schritt für Schritt kommt so die Wahrheit zum Vorschein.“ Ganz François, der alte Sozialist.

Doch was nützen sozialistische Wahrheiten im Kreise der Allermächtigsten? Boris Jelzin hatte ganz sicherlich anderes erwartet, als er sich gestern im Akasaka Palast einfand. Die herzliche Begrüßung Clintons schien dem Russen neben dem starren Nicken der anderen zu mißfallen. Schüchternen Blickes, mit zusammengezogenen Schultern nahm Jelzin schließlich Platz. Er gehörte nicht zur Schulklasse und konnte Ton und Arbeitsweise offenbar nicht verstehen. Alles aber soll sich ändern: „Wir wollen uns auf künftigen Gipfeltreffen mehr Zeit für den persönlichen Gedankenaustausch nehmen und informellere Rahmenbedingungen schaffen“, teilte Kanzler Kohl mit. Pädagogisch gesagt: Weniger ergebnisorientiert sollen die Gipfel werden. Ist also Bill Clinton der nächste Lehrer? Georg Blume