Geld verschwindet unterm Kanal

Die Eröffnung des Tunnels von Calais nach Folkestone wurde wieder verschoben / Einweihungsfest mit Queen und Mitterrand erst im Mai 1994  ■ Von Ralf Sotscheck

Berlin (taz) – Am 6. Mai 1994 ist es endlich soweit: der Traum von Napoleon und Harold Wilson wird wahr. Dann soll nämlich der 52,2 Kilometer lange Kanaltunnel zwischen dem nordfranzösischen Calais und dem südenglischen Folkestone offiziell eröffnet werden – wenn der Termin nicht abermals verschoben werden muß. Eurotunnel, die britisch-französische Tunnelbetreiberfirma, braucht nämlich schon wieder Geld. Die Kosten für das Mammutprojekt sind inzwischen auf 9,9 Milliarden Pfund (ca. 25,3 Milliarden Mark) gestiegen. Das ist doppelt soviel, wie ursprünglich geplant war.

Eine Milliarde Pfund fehlen Eurotunnel noch, sagte der Vorsitzende André Bénard. Die Hälfte davon will er in den nächsten zwei Jahren auftreiben, den Rest bis Anfang 1996. Eine Möglichkeit dafür ist die Ausgabe neuer Aktien. Der Finanzchef Graham Corbett sagte: „Wenn die Bedingungen zur Zeit der Tunneleröffnung günstig sind, werden wir die Gelegenheit nutzen.“

Alistair Morton, Geschäftsführer von Eurotunnel, ist denn auch optimistisch: Er rechnet sogar damit, daß der Betrieb schrittweise bereits vor der offiziellen Eröffnung, möglicherweise schon ab Januar, aufgenommen werden kann. Transmanche Link (TML), das britisch-französische Konsortium, das den Tunnel baut, ist da völlig anderer Meinung. Vor Juli nächsten Jahres sei an die Aufnahme des planmäßigen Eisenbahnverkehrs nicht zu denken.

Heftiger Streit um die Finanzierung

Das ist nicht die einzige Meinungsverschiedenheit: Die beiden Firmen streiten sich auch ums Geld. Dabei geht es um 1,3 Milliarden Pfund, um die TML die veranschlagten Kosten bisher überschritten hat. Ein unabhängiger Vermittler versucht seit Jahren, einen Kompromiß zu finden. Für die fünf englischen Firmen in dem Konsortium geht es ums Überleben. Sie haben im vergangenen Jahr zusammen 230 Millionen Pfund Verlust gemacht, und auch in diesem Jahr werden sie rote Zahlen in Höhe von 35 Millionen Pfund schreiben. Hinzu kommen 1,5 Milliarden Pfund, die sie den Banken schulden. Die fünf französischen TML-Firmen könnten eine Niederlage in dem Rechtsstreit leichter verkraften, da es sich bei ihnen um Tochterunternehmen großer Konzerne handelt.

TML drohen jedoch auch von anderer Seite Schwierigkeiten: Die kanadische Rüstungsfirma Bombardier, die die Züge liefern soll, hat TML auf Nachzahlung von 250 Millionen Pfund verklagt und die Arbeit an den Zügen erst einmal eingestellt. Davon ist indirekt auch Eurotunnel betroffen, da man sich zumindest für das nächste Jahr mit weniger Zügen als geplant behelfen muß.

Eurotunnel wiederum hat sowohl gegen die Eisenbahngesellschaften als auch gegen die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs Klage eingereicht. Die Regierungen seien aufgrund der Subventionen für Fluggesellschaften und Kanalfähren an einer Wettbewerbsverzerrung schuld, argumentiert Eurotunnel. Wenigstens in diesem Streit zeichnet sich jedoch ein Kompromiß ab: Eurotunnel wird sich laut Bénard wohl mit einer Lizenzverlängerung für die Betreibung des Kanaltunnels über das Jahr 2042 hinaus zufriedengeben.

Von Großbritannien aus gibt es keine Anschlußgleise

Den Eisenbahngesellschaften wirft Eurotunnel vor, daß sie die vertraglich festgelegten Termine für die Fertigstellung der Infrastruktur nicht eingehalten haben. Während auf französischer Seite immerhin die erste Etappe der Hochgeschwindigkeitsstrecke von Paris nach Lille Mitte Mai fertiggestellt worden ist und der Rest bis Calais im September eröffnet werden soll, wird es am anderen Ende des Tunnels noch bis zum nächsten Jahrhundert dauern. Das Londoner Unterhaus debattiert seit Jahren über die Streckenführung, und auch die Finanzierung ist noch nicht gesichert. Die Regierung baut dabei auf Privatinvestoren.

So werden die Züge ab Mai 1994 von Paris aus mit 300 Kilometern pro Stunde zur Küste rasen, mit immerhin noch Tempo 160 durch den Kanaltunnel fahren, um ab Folkestone mit der Geschwindigkeit einer Vorortbahn auf dem alten Schienennetz nach London zu zuckeln.

Dort gibt es aber wenigstens schon einen modernen Bahnhof, der im Mai mit viel Getöse eingeweiht worden ist. Stolz verkündete der Vorstandschef Bob Reid von „British Rail“, daß das neue Flaggschiff der britischen Eisenbahn, der Internationale Bahnhof Waterloo, nicht nur termingerecht fertiggeworden sei, sondern auch den Kostenrahmen von 130 Millionen Pfund (ca. 325 Millionen Mark) eingehalten habe. Freilich litt die Eröffnungsfeier ein wenig unter der Abwesenheit der Hauptdarsteller: die Züge werden erst mit einem Jahr Verspätung einrollen.

Doch selbst das ist längst noch nicht sicher. Die britische Regierung hat nämlich beschlossen, im Norden Londons – wahrscheinlich in St. Pancras – einen weiteren Bahnhof zu bauen, über den der Hauptteil des Schienenverkehrs nach Paris abgewickelt werden soll. Darüber hinaus wird die Fahrzeit von St. Pancras nach Paris eine Viertelstunde kürzer sein, weil der Bahnhof im Gegensatz zu Waterloo an das neue Schienennetz angeschlossen wird. Waterloo ist für fünfzehn Millionen Passagiere im Jahr angelegt. Zur Zeit benutzen etwa sechs Millionen im Jahr die Kanalfähren, vier Millionen fliegen nach Paris.

Wenn wenigstens diesmal alles nach Plan läuft, wird der französische Präsident François Mitterrand am 6. Mai nächsten Jahres in Paris in einen Zug steigen, der in die Zehn-Milliarden-Pfund-Röhre einbiegen und genau auf halber Strecke anhalten wird. Dort soll die offizielle Eröffnungsfeier mit Königin Elizabeth steigen – falls die Queen nicht Verspätung hat.