■ Illustre Illustrierte (7)
: Der große Blonde

Alles wäre anders gekommen, wenn ich im Intercity nicht diese Zeitschrift gefunden hätte. Mit meinem Verlobten Rüdiger war ich bei der Beerdigung seiner reichen Großtante. Die ganze Zeit hatte ich mich inmitten seiner eingebildeten Verwandtschaft unwohl gefühlt, ich selbst komme ja nur aus einfachen Verhältnissen, bin angelernter Redakteur einer drittklassigen Tageszeitung.

Rüdiger dagegen war Alleinerbe und studierte Medizin, Jura und Betriebswirtschaft abwechselnd in Harvard und Cambridge. Manchmal zog er mich wegen meiner Herkunft auf, aber Mutti beruhigte mich: „Steck das weg, Junge, so eine gute Partie kriegst du nie wieder.“

Auch auf der Rückfahrt mußte Rüdiger dauernd sticheln: „Du hättest zur Beerdigung aber auch ein neues Jackett anziehen können“, nörgelte er. Statt einer Antwort griff ich zu einer Illustrierten, die ein Fahrgast hatte liegen lassen: mein erlebnis. „Leg doch diesen Schund weg“, zischte Rüdiger. „Ich lasse mich nicht herumkommandieren“, brüllte ich zurück.

Rüdiger stand auf, nahm seinen Koffer aus Schlangenleder und verließ wortlos das Abteil. Am nächsten Bahnhof sah ich ihn aussteigen. Ich wußte nicht, ob ich weinen oder lachen sollte, und so blätterte ich in dieser Zeitschrift. Beim Lesen fühlte ich mich verstanden, da kamen Menschen zu Wort, die es noch viel schwerer hatten als ich: die dicke Drea, die nur einmal in ihrem Leben geküßt wurde, die Arzthelferin, deren Freund sich immer nach anderen Mädchen umdreht.

Auch Rätsel gab es in mein erlebnis, die mir meine Gedanken zerstreuen halfen. „Warum so traurig, junger Mann?“, holte mich eine helle, angenehme Stimme in die Wirklichkeit zurück. Vor mir stand der Schaffner, ein gutaussehender Hüne mit blonden Locken, blauen Augen, breiten Schultern und einer schmucken Uniform. „Kann ich Ihnen beim Rätseln helfen?“ fragte er, und schon hatte er mir den Kuli entrissen und bei „deutscher Vorname mit drei Buchstaben“ das Wort „Max“ eingetragen. Ehe ich etwas sagen konnte, huschte er wieder aus dem Abteil.

Ich konnte es kaum erwarten, den Schaffner wiederzusehen, und meine Ungeduld sollte sich lohnen. „Darf ich Sie zum Abendessen einladen“, fragte mich der blonde Unbekannte am Endbahnhof. Kurz dachte ich an Rüdiger und Mutti, doch voller Erwartung nahm ich die Einladung an.

Und es wurde der schönste Abend meines Lebens. Karl- Heinz, wie sich der Schaffner mir vorstellte, hatte eine gutbürgerliche Gaststätte ausgesucht, nicht so eine noble Bar, wie Rüdiger sie bevorzugte. Nach dem Dessert blickte er mir ganz tief in die Augen: „Möchtest du dein Leben mit mir verbringen?“ „Ja“, hauchte ich. Eine Sekunde später gaben wir uns einen innigen Kuß, und Karl-Heinz versprach mir ein Häuschen mit Garten, einen Opel Corsa, zwei Adoptivkinder und ein Abonnement von mein erlebnis. Micha Schulze