Experiment einer Sommerschule

■ Erste Kontakte zwischen deutschen und baltischen ForscherInnen

Daß ein junger Molekularbiologe aus Estland in einem Badeort an der Ostseeküste Litauens einem Nobelpreisträger für Immunologie aus Freiburg zuhört, wäre vor kurzem noch sehr unwahrscheinlich gewesen. Auf der Sommerschule „Immunologie 93“ Anfang Juni war dies der Fall. Die Initiative dazu ging von dem Allergologen Stasy Gendvilis von der Medizinischen Hochschule in Kaunas und Hans-Hartmut Peter, Direktor für Rheumatologie und klinische Immunologie der Freiburger Universitätsklinik, aus.

Beide hatten sich 1978 an der Hochschule in Hannover kennengelernt, als Gendvilis dort als Stipendiat zu Gast war. Mit Beginn der Reformpolitik in der Sowjetunion konnte Peter dann 1986 der Einladung zu einer Allergologen- Tagung in Kaunas folgen. Denn wenn auch Gendvilis sagt: „Wir in Litauen haben die Immunologie als Fachbereich mit 30 Jahren Verspätung entdeckt“, gab es doch schon eine Forschungstradition im Land. Der in den zwanziger Jahren in Paris ausgebildete Physiologe und Allergologe Vladas Lasas gilt als der Begründer für Immunologie in Litauen. Kaum hatte Litauen 1990 seine Unabhängigkeit erklärt und sie im August 1991 auch faktisch erreicht, gründete sich eine Immunologische Gesellschaft in Vilnius. (Zum Vergleich: Die deutsche wurde 1957 gegründet.)

Um den desolaten Rückstand in Forschung, Lehre und klinischer Praxis der Immunologie im Baltikum abzuhelfen, beschlossen Gendvilis und Peter, gemeinsam mit dem baltischen Immunologenverband eine Sommerschule in Palanga durchzuführen. In Kaunas wurde zwar noch unter der zentralstaatlichen sowjetischen Planung mit modernsten Mitteln eine Vorzeigestation für Herztransplantationen eingerichtet, in der etwa acht Herzen transplantiert wurden, aber für die hunderttausend immunologischen und rheumatologischen PatientInnen im Land gab und gibt es so gut wie keine diagnostische und therapeutische Betreuungsmöglichkeiten. Nur wenige Labortests können in Vilnius gemacht werden, und bis die Ergebnisse vorliegen, dauert es sechs bis acht Wochen. Aus der Sicht eines westlichen Immunologen ist das noch Sternguckerei, denn ohne ein funktionstüchtiges Labor lassen sich diese schwierigen Krankheiten klinisch nicht fassen.

Ziel dieser ersten Sommerschule im Baltikum sollte es sein, vor allem junge Leute für die Entwicklung der Immunologie zu gewinnen, ihnen die persönliche Begegnung mit ForscherInnen aus deutschen Labors und Kliniken zu ermöglichen, die sie dann zu Aufenthalten nach Deutschland einladen könnten. Und natürlich ist der Multiplikatoreneffekt viel größer, wenn eine Gruppe kompetenter ImmunologInnen aus dem Ausland ins Baltikum kommt, als wenn umgekehrt nur einige wenige die teure Reise in den Westen machen könnten. 14 renommierte WissenschaftlerInnen aus der Bundesrepublik, darunter auch Georges Köhler, der 1984 für die Entdeckung der monoklonalen Antikörper-Produktion den Nobelpreis erhielt, konnten als ReferentInnen gewonnen werden.

Die baltischen OrganisatorInnen, die ihrerseits noch KollegInnen aus Lettland, Estland, Litauen und dem skandinavischen Raum als DozentInnen eingeladen hatten, rechneten mit etwa 60 Anmeldungen für die Sommerschule. Aber da hatten sie die Anziehungskraft der ausländischen Gäste unterschätzt. Es kamen 149 TeilnehmerInnen. In letzter Minute mußte daher der Tagungsort in Palangas größten Kinosaal verlegt werden. Hier sahen sich die deutschen ReferentInnen einem sehr homogenen Publikum gegenüber: StudentInnen, Postgraduierte, DozentInnen und viele ÄrztInnen aus der Umgebung. Zwar hatten tags zuvor die baltischen DozentInnen eine Einführung in das Immunsystem und seine Molekularbiologie gegeben. Aber man kann unmöglich 30 Jahre immunologischer Forschung an einem Tag aufholen.

So war sich Hans-Ulrich Weltzien, erster Vortragender vom Freiburger Max-Planck-Institut für Immunologie, keineswegs sicher, ob das Publikum seinem englischsprachigen Referat über T-Zellrezeptoren auch würde folgen könne. Doch dann kamen, in zaghaftem Englisch zunächst noch, aus einer Gruppe junger Immunologinnen die ersten kompetenten Fragen. Aber die Ärztin, die sich einen Tag freigenommen hatte und nun mit ihrer Handtasche auf dem Schoß aufmerksam und geduldig wartete, ob von diesem hohen theoretischen Niveau auch etwas für ihre Praxis abfiel —, sie ist ein Beispiel dafür, wie wenig Fortbildungsangebote für ÄrztInnen es im Land offenbar gibt.

Trotz aller Anfangsschwierigkeiten dieser Sommerschule war die Stimmung auf beiden Seiten erstaunlich gut. Die baltischen ImmunologInnen wurden sichtlich getragen von dem Elan, die Dinge nun endlich selbst in die Hand zu nehmen. Und die deutschen WissenschaftlerInnen schienen wie selbstverständlich von einer Mitverantwortung für ihr Fach geleitet: „In den fünfziger Jahren haben wir bei den Franzosen, Engländern und Amerikanern gelernt. Jetzt sind wir dran, anderen zu helfen.“

Für 1994 ist eine Sommerschule in Estland geplant. Da möchte man mit einem ausgewählten Thema einen homogeneren Kreis von TeilnehmerInnen ansprechen. Und um keinen falschen deutsch-baltischen Nationalismus aufkommen zu lassen, sollen auch WissenschaftlerInnen aus Minsk und Petersburg und unbedingt wieder die Skandinavier eingeladen werden. Marie-Luise Bott