Keinen Eid auf Rußland

Auf welcher Seite steht sie, die russische Armee? Diese Frage ist so alt wie der Machtkampf zwischen Jelzin und dem Parlament. Doch die ehemalige Rote Armee hat noch mit einem ganz anderen Problem zu kämpfen. Sie schrumpft.  ■ Von Barbara Kerneck

Man habe eine Zeitlang den Wehrdienstleistenden sogar verbieten müssen, in Uniform durch Moskau zu laufen, beklagte sich kürzlich Rußlands Verteidigungsminister Pawel Gratschow. So sehr, meint er, leide die Armee unter sinkendem Prestige in der Öffentlichkeit. Gratschow verriet nicht, was ihn jetzt wieder zur Aufhebung des Verbotes veranlaßte. Die russische Öffentlichkeit ihrerseits nämlich registriert erschrocken, daß die einstmals so stolze Rote Armee in jeder Hinsicht rostet. Und alle stellen immer wieder die bange Frage, auf welcher Seite die Vielbesungene im innenpolitischen Machtkampf steht.

Über die schlechte Moral der Truppe

Daß die einst einheitlichen UdSSR-Streitkräfte unter diverse souveräne Staaten aufgeteilt wurden, denen allesamt die Mittel zur Erneuerung der Ausrüstungen fehlen, hat sich ebenso dramatisch auf die Moral von Offizieren und Mannschaften ausgewirkt wie die materiell nicht abgesicherte Rückführung der Truppen aus den osteuropäischen Ländern.

Doch während dem Abzug der russischen Truppen aus den baltischen Staaten kaum mehr Hindernisse im Weg stehen, wünschen eine Reihe von GUS-Mitgliedern ausdrücklich ihren vorläufigen Verbleib in den eigenen Gefilden. Dazu gehört – angesichts des Konfliktes mit Aserbaidschan – Armenien; in Tadschikistan sichern die ehemaligen Rotarmisten die Grenze zu Afghanistan, die von kriegführenden Drogen-Clans alles andere als beachtet wird.

Als Grenzgänger in den sich vermehrenden Niemandsländern zwischen den zerstrittenen Nationen bezeichnen sich die Russen phantasievoll als „Friedenstruppen“. Ihr – verschwiegener – Blutzoll deutet jedoch auf anderes hin: Fachleute schätzen, daß sie allein im letzten Jahr mehr Opfer zu betrauern hatten als alle UN-Friedenskontingente seit 1945. Viele von ihnen starben in Wahrheit in Söldnereinheiten, die sich heute diesem, morgen jenem Herren verdingen. Jeder fünfte von im letzten Jahr etwa tausend offiziell zugegebenen Toten in der russischen Armee war ein Selbstmörder. Dies ist ein Rekord seit dem Stalinschen Terror-Jahr 1937. Zu zwei Dritteln waren es reguläre Wehrdienstleistende, die sich umbrachten. Ihr Gründe scheinen zunächst banal: unzureichende Verpflegung und schlechte Kleidung.

Allerdings führten — nach den Informationen der Organisation der „Soldatenmütter“ — Diebstähle und Unterschlagungen in den Regimentsküchen dazu, daß die jungen Männer heute in der Regel mit Mangelerkrankungen und untergewichtig vom Komiß heimkehren. Wäsche zum Wechseln „vergißt“ man ihnen in vielen Einheiten auszuteilen. Gewaltmärsche ohne Socken, in Stiefeln, die der eigenen Schuhgröße nicht entsprechen, sind im Sommer wie im Winter an der Tagesordnung.

Die Militärakademie hat indessen auf die Selbtmordwelle mit der Einrichtung einer Fakultät für Truppenpsychologen reagiert. Diese dürften es noch mit einem anderen Phänomen zu tun bekommen: schon ganz offiziell waren 1992 zweieinhalbtausend Drogensüchtige unter den Neueingezogenen, die Dunkelziffer liegt mindestens um das Siebenfache höher.

Neben der Dedowtschina, dem aus der kriminellen Lagerwelt wie ein Virus übertragenen System der psychischen und physischen Folter von Neuankömmlingen durch Ältere, hat das Ausmaß der Korruption in den oberen Rängen den Rekruten den letzten Glauben an die „Größe“ der Armee genommen.

Als Vizepräsident Alexander Ruzkoi vor dem Obersten Sowjet mit seinem Wissen über Korruptionsmachenschaften auftrumpfte, kamen auch die siebzehn Millionen DM zur Sprache, die das Oberkommando der Westlichen Heeresgruppe während des Rückzuges aus den fünf neuen Bundesländern heimlich auf westliche Konten überwies. Nach dieser Fakten- Eruption bemühte sich die Regierung, noch fester die Augen gegenüber analogen Vorkommnissen – so zum Beispiel im Fernen Osten – zuzudrücken.

Selbstbedienung im Waffenlager

Kein Wunder, daß bisherige Soldaten diese Armee verlassen, potentielle sie meiden. 1992 baten 79.000 Offiziere und Fähnriche um Entlassung. In diesem Jahr werden es – Schätzungen der Iswestija zufolge – schon 270.000 sein. Und nur 75.000 Jüngelchen rücken jedes halbe Jahr als Wehrdienstleistende ein. Gesetzlich durchsetzbare Gründe, nicht zu dienen, gibt es für 84 Prozent der jungen Männer – so manche schwere Krankheit zählt übrigens gerade nicht dazu. Ein Recht auf Alternativ-Dienst wurde zwar kürzlich eingeführt, wie dieses aber praktisch aussehen soll und wie es eingeklagt werden könnte – darüber schweigen die normativen Akten.

Das Resultat dieser Bilanz beschreibt die Iswestija: Bald wird überhaupt niemand mehr die Waffenlager und Raketenbasen bewachen. Tür und Tor öffnen sich für die Selbstbedienung.

Die Zahl der Offiziere liegt heute schon unter den für 1995 angestrebten Normen. Die drei Divisionen der russischen Armee müssen aber bis dahin noch kräftig in ihrem jeweiligen Personalbestand schrumpfen – auf gerade noch 1,5 Millionen Männer und Frauen.

Immerhin hat man dem Fußvolk jetzt durch einige finanzielle Gratifikationen den Abstand zur Armee-Elite versüßt. Fähnriche und Unteroffiziere verdienen erstmals seit mehreren Jahren keinen Hungerlohn mehr, sondern erhalten etwa 50.000 Rubel Mindestsold (ca. 84 DM) – zusammen mit vielfachen Gratifikationen in Rußland ein Spitzengehalt.

Die Privatisierung der Regierungsdatschen

Die Militär-Pensionen liegen jetzt wieder über dem Durchschnitt. Und Eltern, deren Söhne während des Wehrdienstes umgekommen sind, haben neuerdings das Recht auf eine volle Pension im Alter von 55 (Mütter) bzw. 60 (Väter) Jahren.

Bösen Menschen, die den Defätismus in der russischen Armee stärken wollen, macht es die Heeresspitze durch ihren Hang zu Sachwerten ziemlich leicht. Vor allem im Moskauer Vorfeld, im Krasnogorsker Bezirk. Von Generalmajor Schaposchnikow – kürzlich noch Oberkommandierender der GUS-Steitkräfte, heute Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrates – bis zu Verteidigungsminister Gratschow „privatisierte“ dort die Spitze des Heeres mit strategischer List Ende 1992 pro Familie je eine der stattlichen Erholungsdatschen des Verteidigungsministeriums – zum Preis von Ende 1991, das heißt zu einem Zehntel des eigentlichen Marktwertes.

Und auch wenn das Gesetz die Privatisierung von Armee-Eigentum ausdrücklich verbietet, billigte Präsident Jelzin dies – denn immer wieder stellt sich ja die bange Frage, auf wessen Seite die Armee im politischen Machtkampf eigentlich steht?

Die erste russische Militärdoktrin

Verteidigungsminister Gratschow verkündete währenddessen, daß eine neue Militärdoktrin gefunden sei – die erste „russische“ in der Geschichte, denn bis 1917 galt das Wort Nikolaus des II: „Doktrin ist, was ich befehle.“ Gratschow zufolge erfordert die neue Doktrin auch den Aufbau einer ganz neuen Armee.

Die bisherige – sowjetische – Militärdoktrin zielte auf den heute am wenigsten wahrscheinlichen Kriegstypus eines weltweiten atomaren Konfliktes. Nun stehen Terroraktionen und Nationalitätenkonflikte auf dem Plan, wenn man den russischen Heeresführern glauben darf. Die Nationalität des – oder der – neuen Feinde wird dabei, zumindest offiziell, nicht benannt. Gewaltigen Einfluß auf das Geschehen im Heere übt nach wie vor der berüchtigte militärisch-industrielle Komplex aus. Die Armee berücksichtigt in ihren Zukunftsplänen auch die Interessen der Industrie. Dies gesteht freimütig der Verteidigungsminister – und denkt dabei nichts Böses.

Gratschow wird von sich selbst und anderen vor allem als Afghanistan-Held charakterisiert. Alte Mitkämpfer, sogenannte „Afghanzy“, bilden heute die Spitze der russischen Streitkräfte und leisten ihm persönliche Gefolgschaft. Noch immer wurde der Kolonialkrieg in Afghanistan von offizieller Seite nicht als Fehlentscheidung beklagt, wie etwa der Vietnamkrieg in den USA. Das Afghanistan-Syndrom im russischen Heer ist unbesiegt.

Afghanistan-Veteran ist auch Generaloberst Wladislaw Atschalow. Im Januar 1991 leitete er die blutigen Aktionen der Russen in Litauen um den Vilniusser Fernsehturm, genau ein Jahr früher dirigierte er den Einmarsch im aserbeidschanischen Baku. Atschalow ist heute der Held rechtsnational gesinnter russischer Militärs in deren Mutterland und in den baltischen Staaten. Im August 91 – so meldete die Zeitung Kuranty – sollte er den Sturm Putschisten- treuer Truppen auf das Weiße Haus in Moskau leiten und habe höchstpersönlich das Terrain dafür erkundet.

Heute hat er wieder Gelegenheit, Leitungsfunktionen wahrzunehmen, und zwar an der Spitze einer Sondergruppe zur Analyse der Situation in den russischen Provinzen, die Parlamentspräsident Ruslan Chasbulatow geschaffen hat.

Auf Leute wie Atschalow setzen der konservative „Bund der Offiziere“ – der nicht aufhört, nach der Wiederherstellung der UdSSR zu rufen –, die Armeezellen der „Nationalen Rettungsfront“ und schließlich die „Unterirdischen Komitees“, lauter ultranationale Vereinigungen in den Reihen der Armee.

In Moscow News berichtete im März Alexander Schilin, selbst Redakteur einer Armee-Zeitung, von seinem Treffen mit Abgesandten eines „Unterirdischen Komitees“.

Da war vom „Umsturz aus Verachtung für die Herrschenden“ die Rede, von „viel Blut“, das schon immer habe fließen müssen, um Rußland zu reinigen.

Die Zukunftsvision dieser Leute hat geradezu Brecht/Weillsches Format: „Und eines Morgens wird das Volk erwachen und wird einen Offizier auf dem Fernsehschirm erblicken, und wenn es auf die Straße hinaustritt und die an den Laternenpfählen baumelnden Marodeure, Schutzgelderpresser, Pseudounternehmer und das übrige Lumpenpack erblickt, da wird es begreifen: das Bordell ist geschlossen, es ist Zeit, machen wir uns an die Arbeit!“

Soldaten für die Demokratie

„Jeder beliebige Versuch, etwas über die wahren Verhältnisse in der Armee in Erfahrung zu bringen, wird unterbunden“, klagte im Februar eine Expertenkonferenz der Bewegungen „Militärs für die Demokratie“, „Bürgerfrieden“ und „Soldaten für das Vaterland“. Und in welchem zahlenmäßigen Verhältnis solche reformfreudigen Gruppen gegenüber den nationalistischen Gruppierungen stehen, läßt sich natürlich auch nicht ausmachen.

Fest steht, daß sich weder Jelzin noch sein bisheriger Verbündeter, Verteidigungsminister Gratschow, weder auf die unbedingte Unterstützung des Generalstabes noch auf die Sympathie der um Moskau konzentrierten Einheiten oder auch nur der Kursanten in der russischen Hauptstadt verlassen können. Einen Eid auf den neuen russischen Staat haben sie allesamt noch nicht geschworen. Die Armeespitze lehnt dies mit der Begründung ab, daß ein Soldat nur einen einzigen Eid im Leben ablegen sollte.

Auf wessen Seite? – Die Frage bleibt offen. Und deshalb käme es für jede politische Kraft in Rußland unter diesen Umständen dem Selbstmord gleich, die gesamte Armee in eine bestimmte politische Richtung befehligen zu wollen. Für den Westen bleibt ein Vexier- Spielchen: Wenn in Rußland nicht jede Partei, die sich so nennt, und erst recht nicht jede herrschende, im Sinne des okzidentalen Weltverständnisses eine Partei ist, und wenn so manche offizielle Gewerkschaft diese Bezeichnung in der Realität parodiert ..., dann verhält sich die russische Armee vielleicht auch nicht wie eine Armee.