Europa endet im Westen

In Jekaterinburg, Ausgangspunkt für die Erschließung des Nordural, herrscht Aufbruchstimmung: Gemeinsam mit benachbarten Regionen rief die Stadt die „Republik Ural“ aus  ■ Aus Jekaterinburg Klaus-Helge Donath

Dichter satter Wald, Kiefern und Birken ragen majestätisch in den Himmel. Ihr Grün schimmert in türkisen Tönen, ein Märchenwald, soweit das Auge reicht. Die Ausläufer des Urals an der Schwelle zu Sibirien, kurz hinter Jekaterinburg.

In einem Märchenwald dürfen verwunschene Schlösser nicht fehlen. Hier werden sie gerade gebaut – für die Ewigkeit scheint es. Aus tiefrotem Ziegelstein, wie man ihn in Rußland nur selten findet. Landschlösser, die sich die Weite Sibiriens zum Maßstab genommen haben. Wer wird hier einziehen? „Reiche Leute wahrscheinlich“, antwortet Wassili und verstummt. Natürlich weiß er, wer. Die Spitzen der Administration des Bezirkes Jekaterinburg. Seit Jahr und Tag grassieren die Gerüchte.

Vor dem monumentalen Bahnhof der Stadt reihen sich die Verkaufsbuden aneinander wie in jeder größeren Stadt Rußlands. Doch hier drängen sich die Reisenden dicht an dicht. Auf dem Boden liegen Besoffene, Bahnhofsnutten, die nach dem Wodkaglas eines Reisenden gieren und sich nicht abwimmeln lassen. Verwahrloste Jugendliche, die mehrere Jahre Lager hinter sich haben. Kinderprostituierte mit zerschundenen Gliedern. Dazwischen Invaliden ohne Beine auf selbstgezimmerten Wägelchen und gemeine Bombschiks, wie die Russen ihre Obdachlosen nennen. Ein Bild der Verzweiflung und des Jammers.

Die Stadt Jekaterinburg war schon immer ein gigantischer Verkehrsknotenpunkt und ist es noch. Hier hält die Transsibirische zum erstenmal hinter dem Ural im asiatischen Teil der Russischen Föderation auf dem Weg nach Wladiwostok. Europa endet vierzig Kilometer weiter im Westen. Von Jekaterinburg aus startete die Erschließung des ressourcenreichen Nordurals. Expeditionen des Polargebietes wurden in Swerdlowsk, wie die Stadt während der Sowjetzeit hieß, vorbereitet. Noch heute zeugen verwaiste Gedenktafeln an alten Gebäuden vom einstmaligen Pionierfieber.

Eisenbahn und Eisenbahner spielen eine hervorragende Rolle in Jekaterinburg. Vor dem Zentralgebäude der Eisenbahner wird einem Kollegen der letzte Gruß erwiesen. Es gleicht einem Fürstenbegräbnis. Ein riesiger Trauerzug macht sich auf zum Friedhof. Schräg gegenüber im Park steht ein Nachbau der ersten selbstgebauten russischen Dampflok der Gebrüder Tscheljapin.

Wieder herrscht Aufbruchstimmung in der Stadt. Zumindest unter seinen politischen Amtsträgern und Gesetzgebern. In für Rußland heute überraschender Eintracht ziehen Exekutive und Legislative an einem Strang. Aus Jekaterinburg stammt die Initiative zur Gründung einer unabhängigen „Republik Ural“. In Moskau will man davon nichts hören. Die Zentrale kann das Ansinnen der Uralzi nicht aus heiterem Himmel getroffen haben – auch wenn der Kreml jetzt so tut. Seit langem ist die Diskussion um eine eigenständige Verwaltungseinheit im Gange. Nur brachte sie bisher kaum spürbare Ergebnisse.

In Jekaterinburg ist man beleidigt. Jahrelang hielt man den Ural als Geisel der Doktrin „wenn morgen der Krieg beginnt, dann ...“. Das hat die Furcht vor einem möglichen Angriff ständig wachgehalten. Das habe die Bevölkerung immer wieder geschluckt und ihre Bedürfnisse zurückgeschraubt. Auf der Straße erzählt der Grubenbauingenieur und Dozent Viktor unaufgefordert die gleiche Geschichte. Der Ural sei eine einzige Notstandsrepublik.

Mit Sicherheit will er sich ein wenig wichtig machen. Dennoch: Bis 1990 war Swerdlowsk eine geschlossene Stadt, für Ausländer nicht zugänglich. Der militärisch- industrielle Komplex hatte hier das Sagen. Vor und während des Zweiten Weltkrieges wurden Schlüsselindustrien in Windeseile hochgezogen.

Die örtlichen Zeitungen behandeln die „Unabhängigkeitserklärung“ mit kühlen Köpfen, und in der Stadt hängen nirgends neue Losungen. Statt dessen: „Ehre der Arbeiterklasse“ oder der „Wissenschaft“, die im Ostural von einem starken Kontingent vertreten wird. Ansonsten eher Mäßigung. Konfrontation scheint man nicht zu wollen. „Wir sind Patrioten, durch und durch Russen“, bemüht sich Levin, die Vermutung von Separatismus auszulöschen. Levin ist der Pressechef des ersten Mannes vor Ort, Eduard Rossel, ein Rußlanddeutscher. Es ginge nicht um eine Loslösung von Rußland, sondern um eine Stärkung der föderalen Strukturen.

Tatsächlich wäre es verwunderlich, wollte der Ural, bisher ein untilgbarer Mythos, nicht mehr russisch sein. Peter der Große schuf die ersten technisch fortschrittlichen Manufakturen, der systematische Bergbau begann. Jekaterinburg diente als Basis zur Eroberung Sibiriens. Die Sowjets setzten es fort und machten es zum Zentrum der Industrialisierung des Ostens. Noch heute finden sich die ersten Manufakturkomplexe einigermaßen erhalten in der Stadt. Alte und neue Architektur stören einander nicht. Hier haben die Planer eigentümlich Maß walten lassen, so ganz anders als in vielen Teilen Rußlands. Selbst die Sowjetische Aufbruchepoche kann sich sehen lassen. Erstaunliche Bauten der neuen Sachlichkeit und des Bauhauses verleihen der Innenstadt ein ansehnliches Gesicht.

Während des Aprilreferendums zur Vertrauensfrage über die Politik des russischen Präsidenten stimmten die Jekaterinburger in einer fünften Frage über ihre ökonomische Selbständigkeit ab. Über 80 Prozent der Wähler entschieden sich dafür. Das hätte Moskau eine Warnung sein müssen. Eduard Rossel geht heute weiter, aber läßt dennoch die Katze nicht ganz aus dem Sack. Denn was heißt „Unabhängigkeit“? Levin: „Wir brauchen keine Hymne, keine Fahne oder sonstigen Symbole. Wir bleiben ein Teil Rußlands.“

Nach den Vorstellungen der Lokalpolitiker soll die Uralrepublik mehr als nur das Gebiet Jekaterinburg umfassen. Man wünscht sich einen Zusammenschluß aller Gebiete des Urals. Dazu gehören der Oblast Perm, Tscheljabinsk, Kurgan, Tjumen, wenn möglich auch die Republiken Baschkortostan und Urdmutien. Machbares und Träumerei vermischen sich dabei. Wohl kaum werden die selbständigen Republiken ihren Status preisgeben. Denn, und das ist das Wesentliche: die Uralrepublik wäre die einzige, die nicht auf dem Prinzip der Titularnation beruhte. Sie favorisiert das Territorialprinzip. „Wie wir es in der Gouvernementverwaltung des alten Rußlands hatten“, erklärt Levin. Alles andere seien Machenschaften der Bolschewiken gewesen, um die Völker besser unter der Knute zu halten. Dem läßt sich schwerlich widersprechen. Doch wie würde es den andern Nationen in ihrem Modell gehen? Levin rühmt sein Jekaterinburg, wo Angehörige 120 verschiedener Völker nebeneinanderlebten. Die Mehrheit stellen natürlich die Russen.

Die Verwaltung übt harsche Kritik an der derzeitigen Verfassungsdiskussion, die die Anregungen aus dem Ural nicht aufgreift. Die Dimensionen sind gewaltig. Allein das Gebiet Jekaterinburg umfaßt fünfmal die Fläche der Schweiz, Tjumen ein vielfaches Frankreichs und so weiter. In den anderen Städten ist die Diskussion allerdings noch nicht so weit gediehen, räumt man freimütig ein. Eine Volksbefragung wäre unumgänglich. Ohne die Details betrachtet, wirken die wirtschaftlichen Perspektiven nicht entmutigend. Öl und Gas aus Tjumen, landwirtschaftliche Produkte aus Kurgan. Schwerindustrie, Baumaterial und Konsumgüter aus Jekaterinburg. Seit Jahrzehnten diente der Naturreichtum den Bonzen und Apparatschiks, um sich zu bereichern. Bis heute hat sich das gehalten.

Auf der anderen Seite das Bild himmelschreiender Armut. Die Geschäfte sind leer. Die Preise verdammt hoch. Angeblich hat Rossel ein wirtschaftspolitisches Konzept schon lange erarbeitet. Doch klagt ein Bürokrat: „Wir stehen vor unglaublichen Schwierigkeiten. 80 Prozent unserer Betriebe unterstanden dem militärisch-industriellen Komplex. Schlagartig müssen wir umstellen.“

Die lange Reihe der neuen ökonomischen Projekte läßt sich auf die schnelle nicht nachprüfen. Mittlerweile gibt es in Jekaterinburg zweihundert Joint-ventures. Philips will die Produktion von Compact Discs und Videos aufziehen. Der Bürokrat gerät ins Schwärmen: „Und im September sind alle großen Banken der Welt bei uns zu Gast.“

Eine Trillion dreihundert Milliarden Rubel hat Jekaterinburg letztes Jahr ans Moskauer Budget abgeführt. „300 Milliarden kamen zurück.“ Das reiche hinten und vorne nicht. Um das zu bestätigen, bedarf es keiner Experten, da genügt ein Bummel durch die Stadt. Die Finanzierung noch dreier weiterer Republiken will man nicht mehr mitmachen. „Uns bleibt keine Zeit“, sagt Levin kategorisch. Gemeinsame Projekte, Energie, Wissenschaft und Armee finanzieren wir, „alles weitere sei Verhandlungssache. „Wir wollen nicht geizig sein.“

Aljoscha bettelt um Geld, flugs verschwindet das letzte Stückchen Brot vom Tisch in der Hosentasche. Der Knirps ist sechs Jahre alt. Seine Eltern sind weggefahren, haben ihn allein zurückgelassen. Wo schläft er? „Wo es grad möglich ist, wo es sich ergibt“, antwortet er wie ein Erwachsener. Aljoscha ist kein Einzelfall. Trotzdem hat der beredte Bürokrat auf dieses Problem keine plausible Antwort parat. Armut hätte es immer gegeben. Die Arbeitslosigkeit läge nach wie vor bei vier Prozent von insgesamt zwei Millionen Beschäftigten. Bei den Kommunisten sei das nicht anders gewesen.

Ein wenig außerhalb des Zentrums, ein gewaltiger Platz. Straßenbahnen rumpeln unaufhörlich vorbei. Die Sonne brennt, die Absätze versinken im schwimmenden Asphalt. Links und rechts der Straßenflucht ansehnliche Industriearchitektur aus den Endzwanzigern. Hier residiert der Koloß Uralmasch, ein gigantischer Maschinenbaukonzern. Der Stolz ganzer Generationen von Facharbeitern. Eine Stadt in der Stadt mit eigenem Versorgungssystem. An einer Schautafel hängen alle Direktoren seit Gründung vor 60. Auch Nikolai Ryschkow, Gorbatschows erfolgloser Premier, war einer von ihnen, bevor er den Weg nach ganz oben antrat. Bei sechs von ihnen zwischen 1932 und 52 steht lapidar: weiteres Schicksal unbekannt. Opfer der stalinistischen Vernichtungspolitik. Uralmasch war einer der ersten Großkonzerne, der sich in eine Aktiengesellschaft der Belegschaft verwandelte. An Aufträgen mangelt es ihm nicht.

Am Mittwoch wird man in Jekaterinburg der Zarenfamilie gedenken. Vor 75 Jahren wurden sie hier ermordet. Jekaterinburg eine russische Provinzmetropole – ein russisches Zerrbild aus Hoffnung und Leid.