Wohin geht Chinas Außenpolitik?

Das Verhältnis der chinesischen Regierung zum Westen und zu den Nachbarn ist von wachsender Unsicherheit bestimmt / Peking hat Mühe, die Provinzen zu kontrollieren  ■ Von Werner Meißner

Hongkong (taz) – Als die französische Regierung im vergangenen Jahr Mirage-Kampfflugzeuge an Taiwan verkaufte, reagierte Peking prompt: Es schloß das französische Konsulat im südchinesischen Guangzhou (Kanton). Als aber die USA einen Vertrag über die Lieferung von F-16-Kampffliegern an Taipeh abschlossen, führte dies nur zu verbalen Protesten – und kurze Zeit später erwarb China eine große Zahl amerikanischer Passagiermaschinen.

Angesichts der Widersprüchlichkeiten in der chinesischen Außenpolitik, für die sich weitere Beispiele aufzählen ließen, stellt sich die Frage, ob die politische Führung in Peking überhaupt noch eine außenpolitische Konzeption besitzt. Oder gibt es nur noch einzelne, überwiegend defensive Reaktionen? In der Logik einer starken und entscheidungsfähigen Führung hätte es gelegen, die USA vor die Entscheidung zu stellen: Entweder ihr seht von dem Geschäft mit Taiwan ab, oder wir nehmen eure Flugzeuge nicht. Das Gegenteil war der Fall. Die USA lieferten an beide Seiten.

Es entsteht der Eindruck, daß die Regierung in Peking zur Zeit um eine Minimierung von Konflikten mit dem Westen um fast jeden Preis bemüht ist. Zugleich werden alle Ansätze zur Veränderung des politischen Systems in Richtung auf einen politischen Pluralismus nach westlichem Vorbild bekämpft. Da die Intensivierung der Außenbeziehungen die politische Führung auch in ihrer Machtstellung nach innen bedroht, hat diese Frage auch außenpolitische Konsequenzen. Daraus erklärt sich zum Beispiel mit das Taktieren Pekings in der Hongkongfrage: Peking hat deutlich gemacht, daß eine Demokratisierung des politischen Systems in Hongkong nicht hingenommen wird, trotz der jüngst wieder aufgenommenen Verhandlungen mit London.

Peking ist dabei, seine Militärmacht auszubauen. So sehen Chinas Nachbarn mit Sorge, daß China seine Seestreitkräfte verstärkt. Das tun Indien und Taiwan auch – aber im Gegensatz zu früher, als sich die VR China fast ausschließlich auf die Verteidigung ihrer Küsten konzentrierte, muß man diesen Ausbau im Zusammenhang mit dem wiederholten territorialen Anspruch Pekings auf mehrere umstrittene Inseln im südchinesischen Meer sehen. China kann seinem Anspruch nur mit einer starken Marine Nachdruck verleihen.

Die chinesische Armee hat zwei Aufgaben: Schutz des Sozialismus und des Vaterlandes. Wenn das politische System sich demnächst desintegriert, wovon viele Beobachter ausgehen, ist nicht sicher, ob das Militär als einziger noch funktionierender Ordnungsfaktor übrigbleibt – trotz der gegenwärtigen Aufrüstung. Noch 1989 reagierte die Armee auf die demokratischen Proteste eindeutig. Doch inzwischen haben sich auch die Strukturen in dem vom Militär kontrollierten Wirtschaftsbereich ähnlich verändert wie die gesamte Wirtschaft. Auch die Korruption hat sich ausgebreitet. Ein Ereignis aus dem Jahr 1990 macht deutlich, daß die wachsende Eigenständigkeit der Regionen an der Armee nicht spurlos vorbeigeht: Als die Führung der Provinz Hunan in jenem Jahr den Preis zu niedrig fand, den die Provinz Guangdong für ihren Reis bezahlen wollte, habe Hunan an seiner Provinzgrenze Truppen aufgezogen, die den Export in die Nachbarregion verhindern sollten, hieß es jüngst in Hongkong. Daraufhin mobilisierte auch Guangdong seine Einheiten.

Eine dritter Aspekt ist das Streben nach größerer internationaler Anerkennung durch die Vergabe der Olympischen Spiele nach Peking. Hier ist das entscheidende Motiv die Rückwirkung auf die Innenpolitik, also Systemstabilisierung. Für die politische Führung ist Olympia 2000 ein wichtiges Mittel der Legitimierung gegenüber der eigenen Bevölkerung. Der Austragungsort Peking käme einer Freisprechung der KP China von der Schuld am Massaker des 4. Juni 1989 durch die internationale Staatengemeinschaft gleich.

Wenn die Zentrale Schwäche zeigt, beginnen die Randgebiete unruhig zu werden. So jetzt in Tibet. Die Geschichte muß sich nicht wiederholen, doch es gibt zu denken, daß mit dem Zerfall der Mandschu-Dynastie (1644–1911) Tibet schon einmal versuchte, unabhängig zu werden. Erst mit dem Einmarsch der „Volksbefreiungsarmee“ 1950 konnte die Region wieder unter Kontrolle gebracht werden. Die Schwäche der Zentrale nach innen wie außen hat offensichtlich zur Folge, daß sich manche Staaten der Region bereits darauf einstellen. Die Regierung in Taiwan geht davon aus, daß sich in der VR China in kurzer Zeit ein fundamentaler politischer Wandel vollziehen wird. Sie hat daher unlängst verkündet, daß die Republik China (Taiwan) innerhalb von drei Jahren den Wiedereintritt in die UNO anstrebt. Der wachsende ökonomische Einfluß Taiwans in der VR China hat hierbei die außenpolitischen Phantasien des Insel-Präsidenten Lee Teng-hui beflügelt: So sind inzwischen 7.000 taiwanesische Firmen auf dem Festland tätig, insgesamt soll Taiwan allein 1992 7,2 Milliarden Dollar in der VR China investiert haben. Lees jüngster Vorschlag sieht vor, daß Peking und Taipeh sich den Platz in der UNO teilen sollen.