Nachschlag

■ Glenn Brancas Neunte in der Parochialkirche

Arithmetische Zufälle, gemeinhin Jubiläum genannt, sind im Zehnersystem nicht allzu selten, Gott sei Dank, sind sie doch für den heutigen Musikbetrieb längst unverzichtbar willkommener Anlaß zu größeren Geldausgaben in Form von kalten Buffets, Festivals, Auftragswerken oder sonstwas.

Die Freunde guter Musik sind 1993 damit an der Reihe, stolz auf eine nunmehr zweistellige Vereinsgeschichte verweisen zu können – und ließen aus diesem Anlaß Glenn Branca, den lautstarken Gitarren-Oberton-Hero, seine Neunte Symphonie kreieren. Nicht ganz ohne tieferen Anlaß: Schließlich hat selbiger nicht nur das erste Konzert der Freunde vor zehn Jahren bestritten, sondern bereits zum Fünfjährigen mit seiner sechsten Symphonie gute Arbeit geleistet. Das war 1988 im Quartier Latin, mit lauter naturtönig gestimmten E-Gitarren und sehr laut: Am nächsten Tag entfernte mir der Ohrenarzt das in der Not in den Gehörgang gestopfte Zigarettenpapier.

Branca aber ist zwischenzeitlich über vierzig und schreibt nun endlich seine Symphonien, wie es sich gehört – für richtiges Symphonie-Orchester –, leistet sich gar noch ein paar Gesangsstimmen hinzu. Die Mährische Philharmonie Olmütz unternahm Dienstag abend in der vollen Parochialkirche die Uraufführung. Vorher aber brachte sie unter der Leitung des jungen Dirigenten Christian von Borries Charles Ives' „Three Places in New England“ zu Gehör – nicht vielverheißend, kam doch das Orchester so brav und akademisch abgedimmt daher, daß lediglich die schöne blonde Cellistin am ersten Pult ein wenig dafür entschädigen konnte.

Neunte Symphonien tragen immer noch den lästigen, durch Beethoven erworbenen Ruf, besonders tief und weltanschaulich und bekennend und noch so einiges mehr, oder aber, seit Schostakowitschs ×uvre, sich satirisch witzelnd über diesen Anspruch hinwegsetzend zu sein. Nun, das Orchester hat sich bereits am symphonischen Gesamtwerk von Sibelius und Bruckner erprobt und der Dirigent immerhin die Erstaufführung der Siebten von Bruckner in der Bearbeitung des untalentierten, aber sozialistischen Hanns Eisler geleitet. Der Erwartungen also viele, der Ansprüche hohe und der Vorwarnungen genug: Bruckner, Sibelius, gar Eisler, Branca für Symphonie-Orchester, Ives im Schlafrock.

Aber es kam schlimmer: über gähnende sechzig Minuten bewies Branca, daß er vom Orchester soviel versteht wie Boris Becker vom, sagen wir mal, Schachspielen. Der Dirigent aber gab nicht auf, versuchte den dramaturgielosen Neue-Musik-für-die- katholische-Kirche-Klängen romantischen Gestus einzuhauchen – wobei dem armen Orchester doch nichts anderes blieb als sich weiter verloren durch das minimal-music-geliftete, orientierungslos dahinschwappende Tongeflecht zu hangeln. Ein Superlativ immerhin: Dilettantischeres war in Berliner Konzertsälen sicherlich seit langem nicht mehr zu hören.

Bleibt nur noch zu hoffen, daß Glenn Branca im Jubiläums- und Auftragswerkreigen zum fünfzehnten Geburtstag der Freunde guter Musik die dann wohl anstehende Oper würdiger zu Tode trägt; und die Freunde schlechter Musik sich endlich entschließen, einen Verein zu gründen – Berlin braucht sie. Fred Freytag