Plüsch für das Auge

Alexander Kluge zu Nation, Oper und TV. Mit dem Filmemacher sprach  ■ Mariam Niroumand

taz: Der Schriftsteller Martin Walser hat kürzlich im „Spiegel“ behauptet, der Rechtsradikalismus sei auch eine Antwort auf die Vernachlässigung des Nationalen durch die Intellektuellen. Wie stehen Sie, Regisseur von „Die Patriotin“ oder „Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“ zu diesem Vorwurf?

Alexander Kluge: Ich denke da ganz ähnlich wie Walser, obwohl ich das Nationale für etwas höchst Artifizielles halte. Für mich ist nicht das Nationale der Knackpunkt, sondern die Frage der Identität. Woran kann ich mich, über meinen eigenen Lebenslauf hinaus, klammern; an die Vorfahren, an die Zukunft? Es muß etwas geben, das außerhalb meiner selbst liegt. Das gilt für jeden Menschen, und wenn er leidet um so mehr. Wir haben ja hier dieses Phänomen, daß Leute jahrelang schweigen und passiv sind, und dann bricht plötzlich etwas aus ihnen hervor, wie 1933, oder positiv wie 1989. Das funktioniert wie ein innerer Markt des Menschen, es hat nichts mit Psychologie zu tun.

Worin besteht denn das spezifisch Deutsche dabei für Sie?

Das ist nichts spezifisch Deutsches, das können Sie jetzt am Verhältnis Paris zur französischen Provinz genauso gut zeigen. Die Verzweiflung der überflüssig gewordenen Bauern, die Marx im „18. Brumaire“ beschrieben hat, führte zu einem Ausbruch: Sie waren Napoleons Fußvolk, das auf Moskau marschierte.

Dieser Tage erscheint eine Überarbeitung von „Geschichte und Eigensinn“ (siehe Kasten), unter dem Eindruck der Wende. Haben Sie Ihre Vorstellungen vom Zusammenhang zwischen Öffentlichkeit und Erfahrung geändert?

Als wir Anfang der siebziger Jahre zu dem Thema schrieben, standen wir noch unter dem Eindruck, daß es eine Öffentlichkeit gibt: die Protestbewegung und deren Folgewirkungen in der damaligen SPD/FDP-Koalition, die noch die Vorstellung von einer Republik hatte, in der es soviel Verwaltung wie nötig und soviel Solidarität wie möglich gibt. Damals begann eine Erweiterung der Öffentlichkeit, die bis 1989 anhielt.

Und jetzt haben wir eine Situation, in der nur noch zufällige elektronische Aufzeichnungen Öffentlichkeit herstellen über das Handeln des Staates, wie im Falle der Schießerei in Bad Kleinen?

Polizeifilme, Überwachung, Dokumentation hatten wir 1968 und im deutschen Herbst auch, aber daß elektronische Aufzeichnungen das Gedächtnis ersetzen, das ist neu. Das kann aufklären, das kann aber auch zum Instrumentarium eines Polizeistaats werden – die bloße Technik ist zu beidem in der Lage. Die grundsätzliche Frage ist, verankert man die Öffentlichkeit in der Selbstdarstellung des Staates, oder in der Lebenserfahrung der Menschen? Ich glaube nicht – um auf Walser zurückzukommen – daß wir die Nation zu wenig beforscht haben, die ja nicht ein spontaner Einfall ist, sondern das Resultat dessen, daß man in Staaten denkt, Einbildungen an den Staat knüpft. Man muß dessen Aufgaben überschätzen, und erst dann kommt das Nationalgefühl zustande. Wir haben jahrhundertelang ohne einen zentralen Staat gelebt; in China hat es nie einen gegeben, und viele andere Gesellschaften kann man auch nicht über den Staat verstehen.

Die Frage ist, so jedenfalls hat es der Ethnologe Werner Schiffauer formuliert, welche Werte mit dem Begriff der Nation verbunden sind. Wenn das, wie in Frankreich zum Beispiel, „Freiheit“ ist, fragt sich Walser, ob die Linke nicht mit ihrer Ablehnung des Nationalen etwas Wichtiges aus der Hand gegeben hat, aus bloßer Angst vor Revisionismus.

Die Frage ist nur, woraus wir hierzulande unser Pathos beziehen sollten; wir haben ja, aus guten Gründen, ein sehr grüblerisches Verhältnis zu unserer Vergangenheit. Wie man das in einen Hoffnungshorizont verwandeln kann, weiß ich nicht. Aber daß wir uns nicht genügend um diese Fragen kümmern, daß die Linke ihr linkes Biedermeier gepflegt hat, da bin ich ganz Walsers Meinung.

Wenn Sie eine Stunde Sendezeit zum Thema „Fremde in Deutschland“ hätten, wie würden Sie die nutzen?

Ich würde einen Kollektivfilm machen wie „Deutschland im Herbst“. Da müßten die Filmemacher zu Wort kommen, die schon zu dem Thema arbeiten, zum Beispiel Ilan Cetin. Der beschreibt mit Innenaufnahmen aus Konstantinopel und Außenaufnahmen aus Berlin, wie ein Deutscher, der eine Türkin fotografiert, in ein Gerangel mit deren Ehemann gerät, bei dem dieser stirbt. Als er in das Haus der Familie geht, um zu erklären, daß es ein Unfall war, schützt ihn nur das Gastrecht vor der Rache der Brüder des türkischen Ehemannes. Das türkische Viertel wiederum wird von Deutschen belagert ... Da wird ein Thema aufgegriffen, das von deutschen Filmemachern selten behandelt wird: Wo setzt man Grenzen?

Sie selbst haben sich mittlerweile hauptsächlich auf das Fernsehen verlegt ...

Das kann man so nicht sagen. Wenn man von Öffentlichkeit redet, ist ja egal, welches Medium man da benutzt. Eigentlich bin ich nach wie vor ein Autor und Schriftsteller. Das ist das, was ich tue, wenn ich mit mir allein bin. Eine Zeit lang konnte ich, was mich beschäftigt, am besten im Film ausdrücken. Das war in einer Situation, in der ich mit Fassbinder, Herzog oder Reitz eine Gruppe bildete. Da gab es ein Umfeld; man arbeitet ja nicht allein. Dieses Umfeld des Autorenfilms ist nun verschwunden, auch gewaltsam dazu gebracht worden, durch die Form der Filmförderung. Jetzt machen wir Fernsehen der Autoren. Das ist dieselbe Filmform. Reitz nennt natürlich „Heimat“ und „Die zweite Heimat“ auch „Film“; er dreht auf 35 mm. Das ist unabhängiges Fernsehen; und genau darum geht es, nicht um das Medium.

Ihre Unabhängigkeit bei Vox scheint im Moment etwas gefährdet; man versucht, ihre Sendungen loszuwerden.

Sie sind aber auch geschützt durch die Lizenz, die die Landesanstalt für Rundfunk, NRW, der DCTP (Entwicklungsgesellschaft für Fernsehprogramme) erteilt hat. Vox verliert seine Lizenz, wenn die DCTP ihre verliert. Meine Unabhängigkeit innerhalb der DCTP wird nicht bedroht, sondern da gibt es eine Koalition von Interessen: denen des Spiegel, der Süddeutschen Zeitung, der Zeit der Neuen Zürcher Zeitung und eben der kulturellen Interessen, die ich vertrete. Die Kulturmagazine, die ich verantworte, laufen auf Sat.1 und RTL bewußt parallel, so daß nicht der Eindruck entsteht, wir seien ein Satellit der Kirch/Springer-Gruppe oder Bertelsmann/ CLT.

Welches sind diese kulturellen Interessen?

Oper, Film und Buch im Fernsehen in homöopathischer Dosierung als unabhängige Produktionen vorkommen zu lassen. Im Moment hat das natürlich eine Schlagseite hin zu den Pressehäusern, die die Vorlaufkosten selbst tragen können. Der Spiegel kann ein Defizit eventuell mehrere Jahre lang durchhalten.

Können Sie etwas zur Rezeption Ihrer Sendungen sagen?

Das ist natürlich von Genre zu Genre verschieden: Kultursendungen wie „Ten to Eleven“ haben bis zu 1,2 Millionen Zuschauer, das heißt etwa ein Drittel der Akzeptanz von Nachrichtensendungen wie „Spiegel TV“. Es gibt eine Zuschauererwartung für investigativen Journalismus; es wird erwartet, daß sich das Fernsehen nicht so verhält, wie man Bücher schreibt, Filme macht oder Musik.

Am nächsten Samstag zum Beispiel zeigen wir in Vox eine 100-Minuten-Sendung zum Thema „350 Jahre Geschichte der Oper“, von Monteverdis „Il Ritorno d'Ulisse“ von 1641, dem Anfang der Oper und der bürgerlichen Gesellschaft; über Verdis „Falstaff“, in der er alle Opern noch einmal zusammengefaßt hat, alle Liebesszenen zu einem Paar verschmolzen hat, das nichts weiter tut als sich zu verstecken. Die kümmern sich um keine Geschichte, keine Handlung, sondern kriechen in ihre Höhlen und spielen Doktorspiele. Wie in „Aida“, wo die Liebenden im Keller verschmachten ...

Dann sieht man Ausschnitte aus der „Riemann Oper“, in der der amerikanische Minimalist Johnson das Riemann-Musiklexikon mit nur zwei Tönen vertont hat. Dann ein Beitrag von Schroeter über „La Traviata“ und Axel Cortis Inszenierung, in der die Zeit der Handlung in das Jahr 1941 nach Paris verlegt wird; die Protagonistin wird nun angeklagt, nicht weil sie Geld genommen hat, sondern weil sie mit einem deutschen General kollaboriert. Das ist unsere Antwort auf „Pretty Woman“.

Schließlich „Lohengrin“ in einer Stuttgarter Inszenierung von Axel Manthei – sieht aus wie die Wiedervereinigung. Der Retter kommt als Zaubermacht auf einem Schwan und unterdrückt alles; der arme Kaiser Heinrich aus Quedlinburg, der da schlichten soll, ist vollkommen ratlos. Wenn Opern so weitergeschrieben würden, dann wäre es nicht mehr das Alte, Plüschige. Benjamin sagt im Passagenwerk, die verlorengegangene Perspektive sei Plüsch für das Auge. Opern haben immer in einer Perspektive gestanden; die kann ich wiederherstellen und übersetzen. Sie lautet, in einem Satz: „Ach, ohne Hoffnung, wie ich bin / geb ich der Hoffnung doch mich hin.“