Wie man mit Vanilleeis den Regenwald rettet

Ben Cohen und Jerry Greenfield erfüllten sich den amerikanischen Traum / Ihr neues Markenzeichen: der „fürsorgliche Kapitalismus“  ■ Aus Sugarbush Andrea Böhm

Ben Cohen würde sich aus vielerlei Gründen jeden Vergleich mit dem Papst verbitten: Erstens ist sein Wirtschaftsimperium viel kleiner als das des Vatikans. Zweitens schmecken seine Produkte besser. Und drittens kann jeder, der will, seine Bilanzen einsehen.

Nur bei der Aktionärsversammlung seines Unternehmens fühlt man sich auf den Petersplatz in Rom versetzt. Der Aufsichtsratsvorsitzende Ben Cohen verliest die Tagesordnung nicht, sondern singt sie vor – mit der gleichen monotonen Stimme wie Johannes Paul II, wenn er die Stadt und den Erdkreis, urbi et orbi, segnet. Die anderen Aufsichtsratsmitglieder amüsieren sich köstlich über die Showeinlage ihres Chefs. Überhaupt haben sie wenig Ähnlichkeit mit dem, was man sich gemeinhin unter einem Aufsichtsrat vorstellt. Bart- und Haarwuchs sind wenig Restriktionen unterworfen; die Kleidung variiert zwischen Jeans, T- Shirts und Birkenstock-Sandalen sowie Jeans, T-Shirts und ausgelatschten Tennisschuhen. Die unbedarfte Beobachterin würde eher einen Senioren-Fanclub der „Grateful Dead“ vermuten.

Es ist Juli im Öko-Urlaubsparadies Vermont. Zeit für das alljährliche Festival der Bilanzen und guten Vibrations des beliebtesten Arbeitgebers im Bundesstaat: „Ben and Jerry's Homemade Inc.“, Amerikas unkonventionellster Eiskremhersteller und Shooting- Star in der Sparte der politisch korrekten Marktwirtschaft. Unter einem riesigen Zelt am Fuße eines Skigebiets mit dem klangvollen Namen „Sugarbush Resort“ haben sich rund 3.000 Aktionäre – vom Ökofreak über den Apartheidgegner bis zum lokalen Farmer – zur jährlichen Versammlung mit anschließendem Open-air-Konzert eingefunden – in der einen Hand einen Becher Gratis-Eiskrem. In der anderen ein Kindermalbuch mit Wölkchen, Sonne, Mond und schwargefleckten, glücklich dreinschauenden Kühen: der Geschäftsbericht des Jahres 1992.

Nach der musikalischen Einlage des Vorsitzenden kehrt ernste Stimmung ein: Es geht um Marktanteile, den Wert der eigenen Aktien und den großen Gegner auf dem Eiskrem-Markt: Häagen Daz. Und es geht immer wieder um die Frage: Wie kann man das Eis noch besser und den Kapitalismus noch menschlicher machen? Zuerst zum Geschäft: Der Absatz von „Ben and Jerry's“ Eiskrem, so verkündet Ben Cohen, der inzwischen wieder normal spricht, ist 1992 um 36 Prozent gestiegen. Der Umsatz belief sich in diesem Jahr auf 132 Millionen Dollar. Die Tendenz ist steigend – vor allem dank geschmacklicher Dauerhits wie „Cherry Garcia“ und „Rainforest Crunch“. Bei ersterem handelt es sich um das nach dem unverwüstlichen „Grateful Dead“-Gitarristen Jerry Garcia benannte Kirscheis; bei letzterem um Vanille-Eiskrem mit Nüssen aus dem Regenwald, deren Erlös teilweise zur Rettung desselben investiert wird. Der diesjährige Durchbruch auf dem Absatzmarkt gelang jedoch mit der neuen Geschmackskomposition „Chocolate Chip Cookie Dough“, die sich nach Bens Ansicht bereits einen Platz im „Universum der Geschmackskultur der Menschheit“ gesichert hat.

Spätestens bei dem Wort „Chocolate“ haben die Aktionäre ihre Eisbecher abgestellt und klatschen begeistert. Auch das Eis am Stiel für Friedensbewegte hat die Absatzprognosen. Aufgrund steigender Nachfrage werden „Peace Pops“ ab sofort für 99 Cent (inklusive Werbung für die Reduzierung des Rüstungshaushalts) in den Supermärkten angeboten. Jetzt mischen sich unter den Beifall gar ein paar Entzückungsschreie.

Die nächste Meldung dämpft die Stimmung: Die beliebten „Brownie Bars“ (Vanilleeis, eingelegt in zwei große Schokoladenkekse, die in Konsistenz und Kaloriengehalt einem Glas tiefgekühlter Nutella entsprechen) werden vorerst vom Markt genommen, weil deren Fließbandproduktion bei den Arbeitern Sehnenscheidenentzündungen verursacht. Bedauerndes Murmeln in den Aktionärsreihen, doch die meisten nicken verständnisvoll mit dem Kopf.

Es ist müßig, zu fragen, was bei Ben Cohen und Jerry Greenfield zuerst da war: die Fürsorglichkeit oder der Geschäftssinn. Fakt ist: Das eine ist so ernst gemeint wie das andere, und in Kombination ergeben sie das Erfolgsrezept für den American Dream der 68er- Generation. Der begann in diesem Fall in einer ausrangierten Tankstelle in Burlington, Vermont, in der Cohen und Greenfield 1978 mit 12.000 Dollar Startkapital und rudimentären Kenntnissen der Lebensmittelkunde ihre erste Eisdiele eröffneten. Heute gehören zwei Fabriken zum kleinen Eisimperium, 550 Mitarbeiter, über siebzig „Ice-Cream Scoop-Shops“ in achtzehn US-Bundesstaaten sowie Filialen in Kanada, Israel und Rußland. Damit nicht genug.

Mit dem Erfolg kommt bekanntlich der Neid, doch in diesem Fall sind die beiden 43jährigen Unternehmer von einer Welle des Wohlwollens umgeben – meist mit gutem Grund: Die Presse, von Newsweek bis Wall Street Journal, hat die beiden ins Herz geschlossen, weil sie von der Mischung aus Underdog-Flair und Profitgespür beeindruckt ist; die Bauern in Vermont lieben sie, weil „Ben and Jerry's“ für die Milch mehr bezahlt, als die Farmer auf dem Markt bekommen würden; zwölf Obdachlose und Ex-Junkies, weil sie in Harlem einen „Ben and Jerry's“ Ice-Cream-Shop eröffnen konnten; die Börsenmakler in New York, weil Cohen und Greenfield am 19. Oktober 1987, dem Tag des letzten Börsenkrachs, auf der Wall Street gratis eine extra zusammengemischte Eiskremsorte servierten: „That's Life and Economic Crunch“.

Bleibt nur noch der Empfang bei Präsident Ronald Reagan 1988 im Weißen Haus nachzutragen, der die beiden als „US-Kleinunternehmer des Jahres“ auszeichnete. Und Bill Clinton mag und bewundert sie natürlich auch: erstens ißt er gern Eis, zweitens würde er auch gern von allen geliebt werden, und drittens enthält die Unternehmensphilosophie der Eiskremfabrikanten aus Vermont all jene Schlagworte, die zur Zeit auch bei den Clintons en vogue sind und alle mit „c“ anfangen: creativity, cooperation, community, common good und corporate responsibility.

Was bei Bill und Hillary oft verquast und vage klingt, hat bei Ben und Jerry einen Namen: caring capitalism – fürsorglicher Kapitalismus. Dem haben sich Cohen und Greenfield 1988 in einer Art öffentlichem Gelübde mit drei Geboten verschrieben: qualitativ einwandfreie Produktion, „gesundes“ Wachstum und Dienst an der Gesellschaft. Um letzteres kümmert sich vor allem die „Ben and Jerry's Foundation“, an die jährlich 7,5 Prozent der Profite abgeführt werden. Damit werden kleine Geldspritzen an Fahrradbüros, Aids- Projekte, Umweltgruppen oder Frauenhäuser verteilt.

Das verschafft zum einen den Organisationen dringend benötigtes Geld, zum anderen „Ben and Jerry's“ einen Kunden- und Mitarbeiterstamm, der dank der Mischung aus grandiosem Eis und guten Taten so loyal ist wie die Fußballfans von Schalke 04. Maureen Martin, seit sechs Jahren bei der Firma, weiß sich nicht nur mit täglich drei großen Eisbechern, sondern auch einem überdurchschnittlich hohen Gehalt sowie einer umfassenden Krankenversicherung versorgt. „Außerdem“, seufzt sie, „tut es so gut, für eine Firma zu arbeiten, derer man sich nicht schämen muß.“ Vorher war sie bei der Bundesregierung angestellt.

Im Zelt sind unterdessen Aufsichtsrat, Aktionäre und Angestellte zu einer Einheit verschmolzen. „Ben and Jerry's“-Fans Anne Herbert und Margaret Pavel, die eine Dozentin für „sozialen Wandel“ an einem Alternativ-College in San Francisco, die andere Ökokolumnistin, rezitieren aus ihrem Büchlein spirituelle Weisheiten. Die gibt's auch zum Aufkleben: „Verübt Taten willkürlicher Freundlichkeit und sinnloser Schönheit“ steht auf einigen Aktionärsstoßstangen.

„Die Vibrations dieser Veranstaltungen rühren mich an wie eine große Familienfeier“, sagt Anne sichtlich ergriffen, und dann wird erneut gesungen, dieses Mal im Chor: „We are the ones we have been waiting for.“ Zu deutsch: „Wir sind die, auf die wir immer gewartet haben.“ Wenn es am Schluß der offiziellen Jahresversammlung ein wenig zuging wie in der „Revival“-Sitzung eines christlichen Wanderpredigers, dann hat das schon seine Gründe gehabt. Schließlich geht es um nicht weniger als die Läuterung und Wiederbelebung des Kapitalismus.

Jetzt hat die Gegenbewegung eingesetzt – eine Mischung aus Illusion vom gerechten Welthandel und ethisch korrekten Profiten, realer Hilfe für dezentrale Probleme und Projekte, für die sich der Staat in den USA nicht mehr oder noch nie zuständig gefühlt hat. Mit dabei sind neben „Ben and Jerry's“ Anita Roddicks Öko- Kosmetikkette „Body Shop“, „Benetton“ mit seinen multikulturellen Models für uniforme Bekleidung.

Fürsorge bietet auch „McDonald's“ mit Sommerjobs für Jugendliche aus dem Ghetto von Los Angeles oder „Reebok“ mit Spenden für Toleranz-Projekte an Hochschulen. In einer Gesellschaft, wo die sozialen Probleme immer größer und die staatliche Intervention immer schwächer wird, gibt es für die Anhänger des „fürsorglichen Kapitalismus“ viel zu tun. Weshalb sich Maureen Martin jetzt entschuldigen muß. Sie wird auf dem Festival gebraucht, wo sich inzwischen das Aktionärsvölkchen und rund dreißigtausend weitere Besucher eingefunden haben. Die Stars stammen aus Zeiten, als man auf solchen Konzerten den Müll noch nicht ökologisch trennte und statt Eiskrem und „Diet-Pepsi“ noch Marihuana und LSD konsumierte: „Little Feat“, „The Band“ – einst Bob Dylans Begleitgruppe – und Arlo Guthrie.

Maureen flitzt unterdessen zwischen den unzähligen „Ben and Jerry's“-Eisständen hin und her, wo jeder ein „Peace Pop“ gratis bekommt, wenn er vorher eine Postkarte an seinen Kongreßabgeordneten abschickt mit der Aufforderung, sich für die Impfung von Kleinkindern einzusetzen. Die Stimmung wird auch durch ein paar kurze Regenschauer nicht getrübt – man fühlt sich wohlgenährt, drogenfrei und gut connected. So gut, daß von außen kaum noch etwas durchdringt.

Daß zur gleichen Zeit 23 Raketen auf Bagdad abgeschossen werden, nimmt man in Sugarbush entweder nicht wahr oder hält es keiner Erwähnung würdig. Das Motto des Festivals heißt „One Heart, One World“, das Eis schmeckt einfach großartig, und die alternative Bäckerei am Eingang zum Konzertgelände hat die Produktion des heutigen Tages den Kindern von Bosnien gewidmet. Mißstimmung gab es überhaupt nur, wenn der Name „Häagen Daz“ fiel. Dann wurde böse gezischt.