Welche Zukunft für Jerusalem?

Nach jahrzehntelanger Siedlungstätigkeit konnte Jerusalems israelischer Bürgermeister jetzt erstmals eine „jüdische Mehrheit“ im Osten der Stadt vermelden  ■ Aus Tel Aviv Amos Wollin

Bei der letzten Runde der Nahostverhandlungen im Juni, bestand die palästinensische Delegation darauf, daß die Frage des zukünftigen Status Jerusalems in einer ersten gemeinsamen Grundsatzerklärung erwähnt wird. Dagegen verwahrte sich Israel jedoch: es forderte, die umstrittene Stadt von vornherein von der geplanten Autonomie-Zwischenlösung auszuschließen. Die israelische Regierung werde derzeit auch keine Verpflichtung übernehmen, Jerusalem auf der Tagesordnung späterer Verhandlungen über eine endgültige Friedenslösung zu setzen.

Die US-amerikanischen Vermittler legten ein „Überbrückungsdokument“ für die gemeinsame Grundsatzerklärung vor, das Jerusalem wie bisher unter souveräner israelischer Herrschaft beläßt. Darin wird den Palästinensern zwar das Recht eingeräumt, Jerusalem auf die Tagesordnung der späteren Verhandlungen über eine endgültige Konfliktlösung zu setzen – aber das verpflichtet Israel zu überhaupt nichts. Auch die Konzession, die Ost-Jerusalemer Palästinensern zwar das aktive, nicht aber das passive Wahlrecht zuspricht, ist nicht neu. Sie gehörte bereits 1992 in das Wahlprogramm der Arbeitspartei.

Seitdem Israel vor mehr als drei Monaten die besetzten Gebiete abriegelte und damit Ost-Jerusalem vom Westufer isolierte, richtet sich die Aufmerksamkeit aller Palästinenser erneut auf die Zentralität des Jerusalemer Problems. Die palästinensischen Bewohner der Westbank können die Hauptstadt seitdem nur noch mit Sonderbewilligung der Besatzungsbehörden besuchen.

Die Erlaubnis, die der Jerusalemer Feisal Husseini – nur er und nur ausnahmsweise – von der Regierung Jitzhak Rabins erhielt, als führende palästinensische Persönlichkeit an den Nahostgesprächen teilzunehmen, änderte nichts an der grundlegenden israelischen Ablehnung jedweder Gespräche oder Verhandlungen über Jerusalem.

Vor wenigen Wochen definierte der langjährige Bürgermeister der Stadt, Teddy Kollek, den amtlichen und von der breiten jüdischen Öffentlichkeit unterstützten Standpunkt zum Jerusalemer Status sehr klar: „Das vereinigte Jerusalem muß die ewige souveräne Hauptstadt des Staates Israel bleiben. Es gibt keinen Platz für zwei Hauptstädte in Jerusalem. Jerusalem ist die Hauptstadt Israels und wird es bleiben – natürlich bei Zusicherung der Gleichberechtigung all derer, die in Jerusalem leben.“

Die Palästinenser befürchten, daß ein weiterer Aufschub der Verhandlungen und die israelische Ablehnung eines Abkommens über Jerusalem sehr bald bewirkt, daß es nichts mehr zu verhandeln gibt. Schließlich hat Israel seit mehr als 25 Jahren gezielt und intensiv die demographische Zusammensetzung der Bevölkerung verändert – und damit den Gesamtcharakter der Stadt. Dann wären die Palästinenser gezwungen, sich der veränderten Realität anzupassen.

Mit der Annexion Ost-Jerusalems im Jahre 1967 hat sich das Stadtgebiet unter israelischer Herrschaft um ein Dreifaches erweitert. Darüber hinaus wurden zunächst unter der Regierung der Arbeitspartei noch ungefähr 17.000 weitere Dunam Boden (ein Dunam sind etwa 1.000 Quadratmeter) konfisziert und für den Bau jüdischer Vorstädte bereitgestellt. Im Laufe der Jahre folgten zusätzliche Erweiterungsdekrete und massivere jüdische Vorstadtbauten. Jetzt gibt es erstmalig eine jüdische Mehrheit in den 1967 annektierten (arabischen) Ostteilen der Stadt. Das erklärte der stellvertretende Bürgermeister Abraham Kachila im Juli 1993.

Gemäß dieser Informationen leben heute im annektierten „Ost- Jerusalem“ (und auch in den Siedlungsgebieten im Norden und Süden der Stadt) etwa 160.000 israelische Juden. Die Majorisierung durch jüdische Siedler wurde erst letztlich durch intensivere Bautätigkeit in der jüdischen Vorstadt Pisgat Zeev erzielt. Im kommenden Jahr werden weitere 6.000 Wohnungen für jüdische Siedler fertiggestellt und mit dem Bau eines neuen Vorstadtviertels „Har Homa“ begonnen.

In kurzer Zeit wird es demnach 200.000 jüdische Siedler im annektierten „arabischen Ost-Jerusalem“ geben, wo die Baubeschränkungen, die im vergangenen Jahr für Teile des besetzten Westufers eingeführt wurden, nicht gelten.

„Seit 1967 haben sich die Dinge ganz gründlich verändert, und wer heute von der Zukunft Jerusalems spricht, muß diesen neugeschaffenen Tatsachen Rechnung tragen“, erklärte Abraham Kachila, der selbst für das Planungs- und Bauressort im Stadtrat verantwortlich ist. Nach amtlichen israelischen statistischen Angaben leben derzeit insgesamt 386.000 Juden und 149.000 Palästinenser in Groß-Jerusalem.

Über dieses Groß-Jerusalem, als die „für alle Ewigkeit geeinte historische Hauptstadt des jüdischen Staates“, beabsichtigt Israel auch in Zukunft keinerlei Verhandlungen zu führen. Andererseits sehen die Palästinenser in Jerusalem – abgesehen von der religiösen Bedeutung der Stadt für die Muslime und Christen – die Hauptstadt Palästinas. Trotz der enormen israelischen Bemühungen um die Judaisierung der annektierten arabischen Stadtteile und ihrer Peripherie halten die Palästinenser weiterhin ihre nationalen Institutionen in Ost-Jerusalem aufrecht.

Gerade jetzt, im Zuge der von Israel vollzogenen Abriegelung der Stadt von ihrem palästinensischen Hinterland am Westufer kommt die – derzeit verhinderte – Zentralität Ost-Jerusalems für das nationale und öffentliche Leben noch deutlicher zum Ausdruck. Immerhin erscheinen in Ost-Jerusalem die palästinensischen Zeitungen; die meisten politischen, sozialen, kommerziellen, medizinischen, kulturellen und religiösen Institutionen und Organisationen der Palästinenser haben ihren Sitz in Jerusalem, wo sich auch das „Hauptquartier“ der Verhandlungsdelegationen und der palästinensische Treffpunkt mit ausländischen Vertretern befindet.

Vor allem die Abriegelung dieses nationalen und historischen Zentrums von den übrigen Teilen der besetzten Gebiete – sichtlich auch als politisch-organisatorische Vorbereitung für die Einführung der „Autonomie“ bei Ausschluß Jerusalems gedacht – hat die palästinensische Delegation dazu veranlaßt, die Frage der Zukunft Jerusalems jetzt an die Spitze der Probleme zu stellen, die in Washington mit Israel verhandelt werden.