Oh Dulcibella!

■ Andermatts Bilder zum „Rätsel der Sandbank“

Es gibt nichts trivialeres als das gezeitenbedingte Trockenfallen und Überspültwerden des Watts. Und es gibt keinen Schriftsteller, der so suggestiv und eindringlich den Rhythmus des Wattenmeeres zur Grundlage eines Romans gemacht hätte wie Erskine Childers in „Das Rätsel der Sandbank“. Vor dem Hintergrund einer undurchsichtigen Spionagegeschichte kreuzen zwei Männer wochenlang mit einer kleinen Segelyacht durchs Wattenmeer, vorgeblich, um Enten zu jagen. Es ist Herbst, kalt, rauh, nebelig, dubiose Skipper tauchen auf, ein Dampfer der kaiserlichen Marine, eine spröde Frau, auf einem vorgelagerten Sand finden rätselhafte Arbeiten statt. Es kommt zu einer gefährlichen Begebenheit, die man auch als Mordanschlag deuten kann. Eigentlich aber geht es um eine Männerfreundschaft zwischen glucksenden Prielen, krummgewehten Pricken, unter einem kalten grauen Himmel.

Segler und solche, die maritime Träume träumen, bekommen glühende Augen, sobald die Rede auf „Das Rätsel der Sandbank“ kommt. Ein Kultbuch, das man idealerweise auf einem Segelturn verschlungen hat. Jürg Andermatt hat es darüberhinaus an Bord eines Segelbootes gelesen, das das Wattenmeer befuhr. Als Fotograf (bekannt sind seine Teufelsmoor-Bilder) versuchte er, Bilder zum Buch zu finden. Was er aus dem Wattenmeer mitbrachte, liegt jetzt als Fotoband vor - zur Einstimmung wird ausgiebig Childers zitiert.

Ein schönes Buch, großartige Aufnahmen. Die Sprachen des Sandes, die Spuren des Windes, die Dramatik der Himmel, Spuren und Zeichen im Watt. Natürlich eine Enttäuschung für jeden Liebhaber von Childers' Buch. Die Bilder Andermatts kollidieren notgedrungen mit denen, die beim Lesen im Kopf entstanden sind. Keinesfalls möchte sich die Phantasie auf die brillanten Impressionen Andermatts festlegen lassen.

Erst beim zweiten Durchblättern bleibt man an Details hängen, an einem winzigen Häuschen auf Stelzen an einer gottverlassenen Mole, an einem Seezeichen im Dunst. Es sind die beunruhigenden Zeichen der Menschen, die in die Stimmung des Buches zurückführen.

Andermatts Bilder ästhetisieren das Wattenmeer und seine Stimmungen, ohne die immanente Bedrohung aufzunehmen, die die beiden Protagonisten Carruthers und Davies selbst beim meditativen Dahinsegeln über die glatte See begleitet. Die Gefahr im „Rätsel der Sandbank“ geht nicht vom Meer aus - dessen Gesetze und Launen kann man erforschen und kennenlernen. Die Bedrohung geht vom Menschen, seinen Dingen und Aktionen aus. Selbst den, mit dem es endlose Tage und Nächte durchs Wattenmeer geht, kennt man in Wahrheit nicht. Bus

Jürg Andermatt, Spuren im Watt: das Rätsel der Sandbank. Kiel: Nieswand 1993, 58 DM

Von Osten und Westen her hatten sich zwei Wasserflächen über die Wüste geschoben, jede streckte Brandungszungen aus, die sich trafen und vereinigten. Ich wartete an Deck und beobachtete den Todeskampf der erstickenden Sände unter dem erbarmungslosen Ansturm der See. Die letzten Bollwerke wurden zerschmettert, gestürmt und überwältigt; der Aufruhr der Geräusche ließ nach und festigte sich, die See fegt siegreich über die ganze Weite. Die Dulcibella, bis jetzt verächtlich träge, begann unter den Püffen, die sie erhielt, zu erwachen und zu beben.