Das Zwickelgelümmel verstehen

■ Stephan Albrecht legt eine Untersuchung zum Bilderprogramm der Rathausfassade vor

Vor Bremens Rathaus kann man zum Beispiel kopfschüttelnd stehen über all das Gold und Grün und Rot, über all die in Stein gehauenen wimmelnden Nackten mit allegorischem Beiwerk, die steinernen Krieger auf den Gesimsen, die geschwänzten Ungeheuer in den Friesen. Ein ganz und gar überfrachteter Renaissancebau, Hauptbeispiel nachgerade der so geheißenen „Weserrenaissance“. Erschütternd.

Oder man heißt Stephan Albrecht. Der Kunstgeschichtler sah zur Erlangung der Dotorwürde glatt zweieinhalb Jahre lang ganz genau hin. Jetzt publizierte er alles Erdenkliche über die Illustrierung der Rathausfassade als stolzes Hardcover im Nachschlagformat, fürwahr eine Bremensie. In schmuckloser Zeremonie überreichte der Autor sein Werk am Mittwoch dem Hausherrn des Rathauses, dem ersten Bürger Klaus Wedemeier.

Und siehe: jede Putte, jede sandsteinerne Schöne und jedes mit flatterndem Gewand dahineilende Halbrelief trägt eine alte Bedeutung, von der man seit hunderten Jahren in dieser Stadt nicht mehr weiß. Schlimmer noch: Blinde Forscher von gestern lasen aus Bremens Fassade Beiträge zur politischen und religiösen Lage in Bremen um 1600 heraus, als das Rathaus zu seiner jetzigen Form fand.

Und dicker noch kommt's: Sich lümmelnde Wesen in den Zwickeln zwischen Arkaden sollten gar das Leben der Bremer Bürger unter der Fürsorge des guten Bremer Rats demonstrieren.

Nichts von alldem, so spricht der neue Doktor Albrecht, der als erster Forscher, folgt man seinen Worten, den Blick weitete von Bremens Nische auf die Blüten der Renaissance im ganzen europäischen Kulturkreis. Und in Hildesheim, Brüssel und Einbeck fand sich ähnlicher Schmuck an den Häusern wie auch in ihrem Inneren.

Und was die Bremer Hostess den Reisenden über das gute Leben im alten Bremen erzählt, wäre zu korrigieren der Art, daß die Bremer Rathausfassade in Wahrheit Trägerin eines allüberall beliebten und verbreiteten allegorischen Weltbildes ist, womit der Bremer Rat sich schmückte und pries zugleich. Und eine weitere grobe Fälschung enthüllte unser Gelehrter.

Tragen die großen Figuren an den Giebelseiten des schmucken Gebäudes nämlich Spruchbänder, die sie als alte griechische Denker ausweisen wie Aristoteles und Demosthenes, wurden die steinernen Helden in Wahrheit anläßlich des Umbaus des ursprünglich gotischen Hauses zu Anfang des 17. Jahrhunderts schlicht und ohne Arg umbenannt. Propheten, erkannte Albrecht, waren's vordem! Und im Verein mit Kaiser und Kurfürsten, die steinerne Blicke auf Roland und Marktplatz werfen, bilden die Propheten eine der Kunstgeschichte durchaus geläufige Figurenfamilie.

Mit Bienenfleiß sortierte, verglich und erklärte Stephan Albrecht all die Justitiae, Veritates und sogar die Avaritiae, allegorische Darstellungen von Recht, Wahrheit und Geizes, welchletzerer allerdings von Justitia in den Staub getreten wird.

Und mit seinem Buch in der Hand stehn die Menschen jetzt vor dem Rathaus, verstehen den Mandolinisten, die Früchteesserin und die Reichsapfelträgerin. Entdecken die säulenbrechende Fortitudo, die Memoria und die Spes, die Caritas, Prudentia und Pax, Fama und Liberalitas. Ein Handbuch fürwahr!

Ein Kummer blieb dem Doktor: zu disparat sind die Bilder der Rathausfassade — ein ikonographisches Gesamtprogramm fand sich trotz innigen Suchens nicht. Was den einfachen Betrachter indes in keinster Weise inkommodiert.

Burkhard Straßmann

Stephan Albrecht, Das Bremer Rathaus im Zeichen städtischer Selbstdarstellung vor dem 30-jährigen Krieg. Marburg: Jonas-Verlag, 1993. 48 Mark