Verschärfte Ausbildungssituation

■ 5.000 Schulabgänger in Berlin suchen vergeblich nach Lehrstellen / Ausbildungsgarantie für den Osten war nicht so gemeint / Sonderregelung der außerbetrieblichen Ausbildung 1993 ausgelaufen

In Berlin droht sich dieses Jahr die Zahl der Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz zu verdoppeln. Das Landesarbeitsamt Berlin- Brandenburg sieht eine Lücke von bis zu 3.000 Ausbildungsplätzen. Schulsenator Jürgen Klemann (CDU) sprach letzte Woche gar von bis zu 6.000 fehlenden Lehrstellen. Er verband die Hiobsbotschaft mit einem Appell an die Berliner Wirtschaft und einer Kopfprämie: 5.000 DM für jeden zusätzlich beschäftigten Lehrling.

Im vergangenen Jahr waren zum 1. September, wenn das Gros der Ausbildungsverhältnisse startet, rund 1.000 Jugendliche ohne Lehrmeister. Diese stammten vor allem aus dem Westteil der Stadt. Ostberlins Schulabgänger fanden eine Lehrstelle spätestens in „außerbetrieblichen Bildungsstätten“. 1993 gibt es die jedoch nicht mehr.

Die Ursachen für den Lehrstellenmangel liegen an strukturellen und konjunkturellen Schwächen der Region. Die Wirtschaft „kann nicht kompensieren, was an Großstrukturen verlorenging“, meint Rainer Schön von der Industrie- und Handelskammer (IHK). Zudem ist eine starke Bewegung von Einpendlern aus Brandenburg festzustellen. 1.500 wanderten im vergangenen Jahr aus der Mark zur Lehre an die Spree. Auch im Osten der Stadt steht vielen Jugendlichen die Joblosigkeit bevor. In Marzahn etwa bewerben sich rund 3.000 junge Leute für Lehrstellen. Im ganzen Jahr '92 wurden dort aber nur 900 Ausbildungsplätze angeboten.

Die „Scherenbewegung“ sieht Rainer Schön auch für seinen IHK-Bereich. Dort seien deutlich weniger Lehrverhältnisse als '92 gemeldet worden. 4.300 sind es bislang. Bis Herbst müßten noch einmal so viel hinzukommen, um die Zahl von '92 zu erreichen. Industrie und Handel stellen gut die Hälfte der 56.895 Ausbildungsplätze in Berlin; in Ostberlin liegt der Anteil der angehenden Kaufleute und Industriemechaniker sogar noch höher.

Mit einer Briefkampagne hatte die IHK die Unternehmen um verstärkte Ausbildung gebeten – offenbar ihr Beitrag zur Lehrstellengarantie, die die deutsche Wirtschaft bei den Solidarpaktverhandlungen im Januar gegenüber dem Kanzler abgab. Sie sollte für die fünf neuen Länder und Berlin gelten. Rainer Schön findet allerdings den Begriff „Garantie“ unangemessen. Die Wirtschaft habe immer gesagt, daß es ohne „außerbetriebliche Ausbildungseinrichtungen“ nicht gehen werde. Diese jedoch führen seit diesem Jahr – wie die ganze Zeit im Westen üblich – nur noch Jugendliche zur Berufsfertigkeit, die schwer vermittelbar sind. Die entsprechende Sonderregelung für Ostjugendliche ist abgelaufen. Auch sie stehen nun auf der Straße, wenn sie keinen betrieblichen Ausbildungsplatz finden.

„Da werden die Sozialfälle von morgen vorprogrammiert“, befürchtet Rainer Heinrich, Abteilungsleiter für Bildung beim DGB Berlin. Die Alternativen sind rar. Die Jugendlichen treten in berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen ein oder versuchen in Fachschulen unterzukommen, die schulische Ausbildungsgänge anbieten. Auch das aber sind im Grunde „Warteschleifen“, die das Problem nur verschieben. „Alle sind sich einig, daß sich noch was bewegen muß am Lehrstellenmarkt“, sagt Rainer Schön von der IHK. Christian Füller