■ Zukunftsdebatte als Historikerstreit?
: Die Nationalismus-Falle

Die westlichen Industriegesellschaften befinden sich am Beginn einer kopernikanischen Wende. Mit der Moderne wanderten die Heilserwartungen vom Jenseits ins Diesseits. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts spaltete sich die Erwartung immer größeren Reichtums für eine immer größere Zahl in die kommunistische und die demokratische Methode. Jetzt wird diese Heilserwartung abgeschafft. Die zum heimlichen Menschenrecht emporgewachsene Aussicht auf mittelfristig wachsenden Konsum weicht der Einsicht, daß der weiße Mann bis auf weiteres mit immer weniger wird auskommen müssen.

Der Wechsel vom Immer-Mehr zum Immer-Weniger ist den Deutschen seit 1989 stärker ins Unterbewußtsein gedrungen. Die materiellen Vorboten kommender Knappheiten sind uns unter den Tarnnamen „Rezession“ und „Kosten der Einheit“ auf den Leib gerückt. Gerechtere Behandlung anderer Volkswirtschaften oder Immigration von deren Bürgern, Umweltschutz oder Katastrophenschutz, Kosten der Abschottung oder der Integration – das sind nur Alternativen im Weniger, nicht zum Weniger. Auch Effizienzgewinne und Produktivitätsfortschritte machen die Verknappung konsumierbarer Güter und Dienstleistungen nur intelligenter. Längst auch geht es nicht mehr um die Ungeborenen. Es geht um uns.

Unsere Institutionen, Pläne und psychischen Dispositionen sind aber bisher von Kopf bis Fuß auf Wachstum eingestellt. Darum verbreitet die kopernikanische Wende Furcht. Zu Recht: Wer heute keine Angst hat, hat keinen Verstand. Allerdings bemüht sich zum Schaden der öffentlichen Debatte jeder, vor dem Angst zu haben, was er am besten verarbeiten kann. Jürgen Habermas (Spiegel 28/1983) hat Angst vor Rainer Zitelmann. Für die Lähmung der Politik macht er die Renaissance des Nationalen verantwortlich, in deren intellektuellem Zentrum er den genannten Autor wähnt. Verglichen mit dem Historikerstreit, den Habermas gegen Hillgruber, Nolte und Stürmer bis '89 ausfocht, wirkt die nun gewählte Konfrontation etwas mickrig. Rainer Zitelmann, Historiker und Cheflektor im Ullstein-Verlag, ist dafür auch nicht rechts genug und, nebenbei, zweifellos Demokrat.

Der Nationalismus krankt ohnehin an seiner Gezwungenheit. Die meisten Neo-Nationalisten sehen in ihm die Möglichkeit, die verwöhnten Westdeutschen zur Solidarität mit den Ostdeutschen zu bewegen. Sie verschreiben patriotische Gefühle zur Stärkung des Gemeinsinns. Die Habermassche Linke weist dagegen auf die schrecklichen Nebenwirkungen dieser Medizin hin und empfiehlt als Kontra-Indikation die Einnahme von möglichst viel „EG“. Zu bestreiten ist aber schon die Wirkung von solchem medizinischen Nationalismus. Gefühle lassen sich schwerlich verordnen. Volkspädagogische Tricks funktionieren in einer Gesellschaft nicht, die sich tagtäglich selbst durchschaut.

Die kulturelle Basis für deutschen Nationalismus ist denkbar dünn. Die Alltagskultur ist überwiegend amerikanisch, der Egoismus ausgeprägt. Die Nation hilft gegen ihn eher noch weniger als nüchterne Einsicht und die gesellschaftlichen Agenturen des Gemeinsinns. Doch auch Familie, Kirche, Gewerkschaften, Parteien und Staat sind in der Krise. Zum Sekundenkleber unserer Gesellschaft kann die Nation also nur werden, wenn sie den Egoismen dient und Feinde produziert. Sie läßt sich nur mit Gewalt auf der individuellen Bedeutungshierarchie an Gesundheit, Sex, Wohlstand, Familie und MTV vorbei nach oben schieben. Das allerdings unterschätzen die national gesonnenen Demokraten.

Nationalismus ist nicht gefährlich, weil er so tief in die deutsche Seele eingegraben wäre. Er ist eher hysterisch als historisch. Dieser Unterschied zu Jürgen Habermas ist nicht akademisch. Der sieht in all den Verdrehungen der gegenwärtigen Debatten keine kleinen Fluchten vor der Wende zum Weniger, sondern den Nationalismus am Werk. Habermas macht daraufhin den deutschesten aller Fehler: Jedes Thema speist er umgehend in einen Erlaubnis-Verbots- Diskurs ein, anstatt zunächst jeweils zu fragen, was der Fall ist.

„Auf dem Weg zur Europäischen Einigung entdecken freilich auch wir den reaktiven Eigensinn der bestehenden Nationalstaaten. (...) Auf der Tagesordnung steht heute die Bildung komplexerer Einheiten bei gleichzeitiger Demokratisierung der bestehenden politischen Institutionen.“ Nicht so sehr nationaler Eigensinn macht die Einigung schwierig. Den gab es in der EG schon immer. Das Projekt Europa stockt, weil es nur mit wachsenden finanziellen Mitteln funktionierte. Und weil die Demokratisierung an Grenzen stößt. Abgesehen von den Schwierigkeiten, auf die eine europäische Verfassung stoßen müßte, wenn wenigstens ernsthaft über sie nachgedacht würde. Noch nachhaltiger wirkt der nationale Charakter der politischen Öffentlichkeiten. Staatsgrenzen mögen überholt sein. Aber sie bestimmen die Grenzen der demokatischen Diskurse. Nicht allein, weil kaum jemand die zwölf Hauptstädte oder gar die Namen der Staatsoberhäupter hersagen könnte. Glaubwürdigkeit, Interessen, Funktionen und Traditionen der Beteiligten zu kennen, zu wissen, wer da spricht – das braucht die demokratische Debatte. Daran gemessen ist die Nation selbst in Deutschland nicht „artifiziell“ (Habermas). Nur der Nationalismus ist es. Die Nation ist bis heute der fernste Spiegel, in dem sich die Individuen gerade noch erkennen können. Ein Spiegel, kein Licht.

Auch über Blauhelme diskutiert Habermas schief: „Notwendig wäre eine Auseinandersetzung mit Machtbewußten, die vor allem den militärischen Handlungsspielraum von Einzelstaaten und Allianzen (...) erweitern möchten.“ Notwendig wäre also, den politischen Gegnern vorzuwerfen, sie sagten nicht, was sie wollten – nämlich „die Gelegenheit der Wehrertüchtigung nutzen“ (Habermas). Primär ist aber weder die Frage, was deutsche Rechte wollen, noch was deutsche Soldaten dürfen, sondern was die UN-Kampfeinsätze sollen und können. Da ist es bedrohlich und nur für die links-deutsche Provinzialität erleichternd, wie wenig Erfolg die UNO bisher bei all ihren Befriedungsversuchen hatte. Kuwait, Kambodscha, Somalia, Bosnien – vier Methoden, vier Fehlschläge. Doch in Deutschland diskutiert man darüber als letztes.

Für den Überhang an Moral sorgt nicht zuletzt der Soziologe Habermas. Ausgangspunkt seiner Überlegungen im Spiegel ist wieder einmal der Historikerstreit. Die Erinnerung an unseren Nazismus stehe der neuen Großmachtrolle entgegen, darum werde „Normalisierung“ propagiert. Im Historikerstreit wurden reale Normalisierungsprozesse in der Gegenwart dazu benutzt, die Vergangenheit zu relativieren. Habermas wollte beides verhindern. Doch er hält die Normalisierung nicht auf. Die Pflicht der Deutschen, bei allen wichtigen Fragen auch in die Vergangenheit zu schauen, hilft nur mehr zu sehen, was zu unterlassen, nicht, was zu tun ist. Bei Bosnien und bei der Migration schweigt das Orakel Auschwitz. Wer sich darüber freut, muß schon sehr dumm sein. Wer das leugnet, sehr interessiert.

Man muß die Dinge auf die kopernikanische Wende hin diskutieren. Denn wir Deutschen werden an realen Problemen erwachsen, nicht an irrealen Gefühlen. Bernd Ulrich

Publizist, lebt in Köln