Narmada: Die Flut steigt

Das erste Dorf im Narmada-Tal ist vom neuen Stausee überflutet / Indiens Regierung macht den Dammgegnern Zugeständnisse  ■ Aus Neu-Delhi Bernard Imhasly

Am 14. Juli erreichte das Wasser des Narmada die ersten Stufen des Surpaneshwar-Tempels am Ausgang des Dorfes Manibeli. Falls die Regenfälle weiterhin anhalten, wird das kleine Shiva-Heiligtum zusammen mit seinem Lingam – dem phallischen Fruchtbarkeitssymbol – in einigen Wochen in den Fluten des Flusses verschwunden sein.

Jedes Jahr zur Zeit des Monsuns wurde dieser Tempel überschwemmt. Anders als bisher wird er am Ende der Regenzeit jedoch nicht mehr aus dem Wasser auftauchen – es sei denn in den Erzählungen späterer Bewohner dieser alten Kulturregion. Und diese Legenden würden dann wohl auch davon berichten, daß das endgültige Versinken des heiligen Lingam nicht das Resultat des Regens, sondern eines Staudamms war, der einige Kilometer stromabwärts das Narmada-Tal absperrte und im Sommer 1993 das Talbecken zu füllen begann.

Tatsächlich markiert das Verschwinden des Tempels und der untersten Hütten von Manibeli den ersten Schritt eines Prozesses, der in den nächsten Jahren zur Überflutung Tausender Hektar Ackerland und Wälder und zur Umsiedlung Zehntausender Ureinwohner führen wird.

Die Auseinandersetzungen zwischen Gegnern und Befürwortern des Narmada-Projekts haben sich deshalb in den letzten Wochen verschärft. Mit 61 Metern hat der Damm des „Dardar-Sarovar-Projekts“ nun knapp die Hälfte seiner Sollhöhe erreicht. Es war leicht zusehen, daß der Rückstau der Monsunregen in diesem Sommer die ersten Behausungen erreichen würde – falls es nicht zu einem Abbruch des Projekts käme.

Verhinderter Kollektiv-Selbstmord

Doch der Verzicht Indiens auf den Weltbankkredit, nach einer internationalen Protestkampagne im Frühling zustande gekommen, hatte nur die finanziellen Engpässe verstärkt, nicht aber den Willen der Regierung, das Narmada-Projekt zu Ende zu führen.

Ebenso entschlossen warteten aber auch die Gegner des Staudamms auf die erste Flut. Sie hatten den Beginn einer politischen Aktion darzustellen, welche die Regierung schließlich zum Abbruch des Projektes zwingen sollte. Am 29. Mai wollten sich die Aktivisten des „Narmada Bachao Andolan“ (NBA) in Manibeli, dem untersten Dorf des Überschwemmungsgebietes, versammeln und drohten, sich nötigenfalls mitsamt ihren Hütten in einer rituellen Selbstopferung ertränken lassen.

Doch die Polizei kam ihnen zuvor und riegelte die zwölf Dörfer auf dem Territorium des Gliedstaats Maharashtra ab. Die wenigen hier noch verbliebenen Familien wurden in höhergelegene Provisorien gebracht, während ein paar mutige Aktivisten, die sich bis ins Dorf Manibeli durchgeschlichen hatten, für kurze Zeit verhaftet wurden.

Medha Patkar, die charismatische Anführerin der Narmada- Protestbewegung, verlegte darauf ihren Kampf nach Bombay, die Hauptstadt von Maharashtra. Dort begann sie am 2. Juni, umgeben von 300 Ureinwohnern des Narmada-Tals, einen Hungerstreik. Sie wollte so die Regierung zwingen, einen unbefristeten Baustopp zu verfügen und eine Untersuchungskommission einzusetzen, welche über Weiterführung oder die Aufgabe des Projekts entscheiden sollte. Nach zwei Wochen brach Medha Patkar den Streik ab. Die Gefahr schwerer gesundheitlicher Schäden, aber auch die Kritik innerhalb des NBA über die Wahl dieses politischen Instruments veranlaßten sie, das Gesprächsangebot der Regierung in Delhi anzunehmen.

Gemeinsame Untersuchungskommission

Nach zähen Verhandlungen gab die Zentralregierung in Delhi am 30. Juni schließlich der Forderung der NBA nach, eine gemeinsame Kommission einzusetzen. Sie sollte in alle strittigen Bereiche, von der Umsiedlung der Talbewohner über die ökologischen Folgen bis zu den Realisierungschancen der Pläne für Bewässerung und Trinkwasserversorgung hineinleuchten. Die Strategie der Gegner ist dabei nur vordergründig darauf ausgerichtet, das Projekt insgesamt neu bewerten zu lassen. Die Unterbrechung der Bauarbeiten soll schließlich in eine vollständige Aufgabe des Vorhabens münden.

Dasselbe Ziel wird mit der Kampagne gegen die Zwangsevakuierungen in den unmittelbar betroffenen Dörfern verfolgt, in welchen der NBA schwere Eingriffe in die Menschenrechte und Verletzungen gerichtlicher Auflagen erblickt. Tatsächlich haben Gerichte die Projektbehörde angewiesen, zwischen der Bereitstellung der neuen Heimstätten und der Evakuierung eine Frist von sechs Monaten verstreichen zu lassen.

Laut NBA ist aber zum Beispiel in Maharashtra das für die Ansiedlung vorgesehene Waldgebiet vom Umweltministerium in Delhi noch nicht freigegeben worden, und in Madhya Pradesh wurden die neuen Siedlungszonen erst identifiziert, aber nicht einmal erworben.

Zugeständnisse und sachliche Argumente

Die Projektbehörde und der Staat verteidigen sich gegen die Allianz der Gegner mit einer Kombination prozeduraler Finessen und sachlicher Argumente. Die Bereitschaft zur Bildung einer Kommission verband sie mit der Weigerung, die Bauarbeiten in der Zwischenzeit zu unterbrechen; und die Kommission erhielt nur den Status eines beratenden Gremiums zugesprochen, dessen Entscheid juristisch nicht bindend sein würde.

Was die Zusammenkunft zwischen Regierung und Dammgegnern Ende Juni jedoch entscheidend schwächte, war das ostentative Abseitsstehen des Gliedstaats Gujerat. Dieser ist nicht nur der größte Nutznießer, sondern auch der wichtigste Geldgeber für das Projekt, und die öffentliche Meinung in dieser Agrarregion stimmt noch immer so überwältigend zugunsten des Projekts, daß die Regierung unter Chimanbhai Patel stürzen würde, wenn sie allzu große Kompromißbereitschaft signalisieren würde. Sie hat sich deshalb hinter dem Urteil des Narmada-Schiedsgerichts verschanzt, das 1980 – nach zehnjährigen Abklärungen! – verordnet hatte, daß ohne Zustimmung aller vier Anrainerstaaten bis zum Jahre 2025 keine Änderung der Projekt-Parameter vorgenommen werden dürfe. Wichtiger als diese taktischen Scharmützel sind jedoch die Argumente, welche die Projektbehörde gegen die Vorwürfe der Gegner auf den Tisch legt, und die durch unabhängige Beobachter weitgehend bestätigt werden. Dies betrifft vor allem die Umsiedlungsbedingungen, welche nicht zuletzt dank der weltweiten Kritik entscheidend verbessert worden sind. Gujerat hat inzwischen unter Beweis gestellt, daß allen Projektbetroffenen zwei Hektar Land pro männlichem Erwachsenen sowie die Kosten für die Wohnstätten und zinslose Starthilfen gewährt werden.

Verbesserte Umsiedlungsbedingungen

Dieses Angebot gilt auch für die Menschen in Maharashtra und Madhya Pradesh, wobei im Fall des letztgenannten Staats die eigentliche Überflutung erst in drei Jahren einsetzt; das Argument fehlender Umsiedlungsstätten sei daher hinfällig, argumentiert die Behörde. Die meisten der noch verbliebenen Einwohner in den zwölf Dörfern Maharashtras, die dieses Jahr wahrscheinlich überschwemmt werden, haben zudem bereits einen neuen Wohnsitz, konnten aber ihr altes Ackerland mit Zustimmung der Behörden bis zum letzten Moment weiterbebauen.

Grundsatzkritik am Entwicklungsmodell

Private Hilfsorganisationen, die sich in den letzten Jahren zur kritischen Zusammenarbeit mit der Regierung bei der Wiederansiedlung gewinnen ließen, haben auf die Kampagne des NBA ebenfalls scharf reagiert. Sie werfen diesen „städtisch verwurzelten“ Gruppen vor, auf dem Rücken der bitterarmen Ureinwohner ihr ideologisches Süppchen zu kochen. Sie verspielten damit deren Chancen, die wirtschaftliche Situation an den neuen Lebensstätten entscheidend zu verbessern.

Zudem drohe die Kampagne zunehmend kontraproduktive Effekte auszulösen. Der Wegfall der Weltbankgelder habe etwa bei der Regierung Gujerats zu Überlegungen geführt, die reichen Bauern, die als Nutznießer des Projekts eigentlich von dieser Möglichkeit ausgeschlossen worden waren, zur Zeichnung von „Narmada-Bonds“ zu verlocken. Es sei schwer vorstellbar, daß sie dies ohne entsprechende Zusicherungen tun würden – und entsprechend weniger Trink- und Bewässerungswasser würde dann in die Dürregebiete fließen.

Tatsächlich hat sich die Kritik der Anti-Narmada-Bewegung in den letzten Jahren von einer punktuellen immer mehr zu einer grundsätzlichen entwickelt: Medha Patkar verfolgt mit ihrer Kampagne auch das Ziel, dem technokratischen Entwicklungsmodell ein demokratisches, dem einseitig wirtschaftlichen ein ganzheitliches Denken entgegenzusetzen. Soweit der Mobilisierungseffekt dafür in den städtischen Eliten im In- und Ausland auch gehen mag, bei den Betroffenen hat er keine Massenwirkung gezeitigt.

Dies liegt vor allem an der großen Armut dieser Menschen, die sie empfänglich macht für das Versprechen der Regierung, ihnen menschenwürdige Zustände zu sichern. Die Überschwemmung des kleinen Shiva-Tempels von Manibeli ist symptomatisch dafür. Statt bei den tief religiösen Bewohnern wie ein Fanal zu wirken, hatte der Gegenzug der Regierung offenbar den gewünschten Neutralisierungseffekt: sie baute in der Arbeiterkolonie von Kevadia einen neuen Tempel, und das Versinken von Shivas Lingam konnte ohne große Mühe in den alten Narmada- Mythos verwoben werden. Gilt dieser heilige Fluß doch als Tochter Shivas, dessen göttliche Allmacht Schöpfung, aber auch Zerstörung im ewigen Kreislauf verbindet.