Im Stadion revoltiert man schon

Individualistische Eleganz statt Disziplin – weist der neue Nationalsport Fußball der japanischen Gesellschaft den Weg aus der politischen Krise?  ■ Aus Tokio Georg Blume

Wie sähe Japan für die Deutschen aus, würden Jürgen Klinsmann und Karlheinz Riedle in Tokio ihre Tore schießen? Eine Schnapsidee? Mitnichten, Pierre Littbarski, Zico und Gary Lineker kicken bereits unter der aufgehenden Sonne, warum also nicht auch die deutschen Superstars? Vielleicht ließe sich dann dieses ferne Reich, wo angeblich liebliche Geishas die fetten Sumo-Ringer umzirzen, Panda-Bären Ski laufen und alle Menschen rohen Fisch essen, verstehen. Denn nichts verbindet Deutsche und Japaner so sehr wie das Fußballspielen. Fußball ist für junge japanische Frauen und Männer der Lieblingssport. Aber wer glaubte bis vor kurzem schon, daß die Japaner Fußballspielen können? Wer glaubte überhaupt an Veränderung in Japan?

Das Wochenende muß es zeigen. Dann wählen die Japaner ihr neues Parlament und vielleicht sogar eine neue Regierung. Wer aber den Wandel spüren will, wer im Anlitz der Menschen erraten will, daß am Sonntag die über vier Jahrzehnte verfestigte Alleinherrschaft der konservativen Liberaldemokratischen Partei (LDP) unwiderruflich zusammenbricht, der gehe nicht zu einer Wahlveranstaltung der Oppositionsparteien, sondern ins Fußballstadion.

„Am Wochenende spiele ich mit meinen Kindern Fußball im Park, und am Mittwoch komme ich mit meiner Frau ins Stadion.“ Auf der Stehtribüne in der Vorort- Arena des Spitzenklubs Verdy Kawasaki legt Hiroshi Yuasa am letzten Mittwoch den Arm um seine Gattin und schwenkt im Takt der Samba-Trommeln die grüne Fahne seiner Lieblingsmannschaft. Mit 40 Jahren gehört Hiroshi Yuasa, von Beruf Koch, zu den neuen Männern im Land, die sich um ihre Familie kümmern und nicht mehr 12 Stunden am Tag in der Firma verbringen. Welch ein Jubel bei den Yuasas, als die Heimmannschaft den Ball endlich ins gegnerische Tor drischt! Im Gegensatz zu seinen Vätern vermag Hiroshi seine Gefühle für Frau und Kinder vor der Öffentlichkeit zu zeigen.

„Ich begleite Hiroshi, weil so viele Frauen hier sind“, strahlt seine Frau Keiko. Tatsächlich finden sich unter den Studenten und Oberschülern, die mit jedem Angriff ihrer Mannschaft in wildes Geschrei ausbrechen, auffällig mehr Damen als Herren. Ihnen ist der alte Volkssport Baseball langweilig geworden. „Weil der japanische Fußball von der brasilianischen Spielart geprägt ist, bietet er individualistischere Typen als jeder andere Sport in Japan“, erklärt der 22jährige Jurastudent Jun Kei, den drei Freundinnen von der Uni mit ins Stadion geschleppt haben.

Japan läßt sich im Jahr 1993 kaum besser als mit dem Erfolg des runden Leders beschreiben. Seit ihrem Auftakt vor zwei Monaten beherrscht die erste Fußballprofi- Liga des Landes Japans sportbegeisterter Jugend. Hunderttausende ausgeflippter Fans pilgern jeden Samstag und Mittwoch in die ausverkauften Stadien, um ihren Mannschaften mit Salsa-Tänzen und anderen Latino-Melodien Rhythmus einzuhauchen. Unten auf dem Spielfeld aber passiert das bis dahin Undenkbare: Inspiriert von ihren künstlerischen Lehrmeistern mit so klangvollen Namen wie Zico, Jorginho und Edu vollführen Japans noch unbekannte Profikicker selbst einen Tanz. Statt Mannschaftsdisziplin bieten sie individualistische Eleganz, statt passivem Einheitsfußball aggressive Angriffslust. Manche japanische Fußballer haben sich die Haare rot gefärbt, andere pflegen lange Hippie-Mähnen, und wer von ihnen ein Tor schießt, wackelt mit der Hüfte und schlägt Purzelbäume.

Nimmt es da wunder, wenn Japans dieser Tage so revolutionäre Politik sich in Einklang mit dem Fußball bringt? „Unsere politische Landschaft gleicht jetzt unserer neuer Fußball-Liga“, diagnostiziert die führende Tageszeitung des Landes, Asahi Shinbun, „Noch nie war Politik in Japan so spannend wie heute.“ Tatsächlich lagen die zehn neuen Fußball-Clubs der Liga am Ende der ersten Meisterschaftsrunde fast sämtlich gleichauf. Und am morgigen Wahlsonntag treten gleich drei Reformparteien an, die sich kürzlich von der LDP abgespalten haben. Einen klaren Sieger wird es deshalb wohl nicht geben. Vielmehr sagen die Wahlbeobachter den Einzug eines neuen Pluralismus voraus, der nach der bequemen Stabilität der liberaldemokratischen Ära die Unwägbarkeiten von Koalitionsregierungen heraufbeschwört.

Solche Sorgen waren in den letzten Tagen nicht nur aus dem konservativen Lager zu hören. Japans unerwartete Juni-Revolte, unter der die Regierung von Premierminister Kiichi Miyazawa stürzte und die mächtige LDP sich spaltete, hat die ökonomische Weltmacht quer durch alle Parteilager zweigeteilt: in Reformer und Gegenreformer. Der jähe politische Riß aber hatte sich in Japan sozial, kulturell und wirtschaftlich längst vollzogen – zwischen jung und alt, Stadt und Land, Frauen und Männern und zwischen den Fußballfans und ihren Vorgängern: den Baseballanhängern.

Zur Zeit der ersten Modernisierung des Landes war Baseball der Sport der Stunde. Noch im Jahr 1900 wurden in allen japanischen Mittelschulen Baseballclubs gegründet. Das Spiel mit dem Holzknüppel fügte sich wie kein zweites den wirtschaftlichen und militärischen Notwendigkeiten seiner Zeit: Baseball verlangt Befehlsgehorsam gegenüber dem Trainer, Geduld, Schlagkraft und Disziplin. Das sind jene Eigenschaften, mit deren Perfektion Japan die Welt erst militärisch überrollte und dann wirtschaftlich beschlagnahmte. Der Erfolg des Fußballs signalisiert in Japan die Stunde der zweiten Modernisierung.

Ausgerechnet in dem 45.000- Einwohner-Städtchen Kashima 200 Kilometer nördlich von Tokio erkannte man die Zeichen der Zeit. Der einzige große Arbeitgeber vor Ort, der Metallkonzern Sumitomo Metals, ließ sich vom Bürgermeister überzeugen, ein neues Fußballstadion mitzufinanzieren. Daraufhin heuerte die alte Werksmannschaft von Sumitomo schon 1991 den Fußballmeister Zico aus Brasilien an und steht heute wie selbstverständlich an der Spitze der Liga. Mit dem Trend zu Pluralismus und Individualismus öffnet sich Japan ein zweites Mal. Wird das die Politik nach dem Wahlsonntag endlich begreifen?