Feuer, Wirklichkeit und das Übrige

■ Furioses Eröffnungswochenende des 10. Internationalen Sommertheaters auf Kampnagel mit der Batsheva Dance Company, Reza Abdoh und Albert Greenberg

Rockmusik dröhnt höllisch, ein Mann zittert wie unter Strom, Tänzer wirbeln durch die Luft, als gälte es, akrobatische Rekorde zu brechen. Die Grenzen körperlicher Expressivität verschieben sich, Kraft und Dynamik stehen im Zentrum der Stücke “Exzerpte aus Kyr“ und “Arbos“ der israelischen Batsheva Dance Company von Ohad Naharin, die am Freitag das 10. Internationale Sommertheaterfestival auf Kampnagel eröffneten.

Collagenartig reiht Naharin in “Exzerpte aus Kyr Szenen aneinander, nimmt Motive wieder auf; es gibt keine Eindeutigkeiten, nur immer wieder Momente, in denen der Zuschauer über die Sinne versteht. „Kyr“, Hebräisch: Mauer, lebt durch das Zusammenspiel mit der Rockband Tractor's Revenge. Die Musiker stehen im Bühnenhintergrund, immer präsent und alles überschauend. Stets den Blick auf die Tänzer gerichtet, geben sie die musikalischen Signale für die 16köpfige Compagnie.

Ein wiederkehrendes Motiv ist die Gemeinschaft in der Diaspora und im Kibbutz-Alltag. Ein Mann im schwarzen Anzug ist der Außenseiter, „der Andere“, der sich erst am Schluß in das in Arbeitskleidung gehüllte Kollektiv einordnet. Eine Frau tanzt mit langsamen, weichen Bewegungen in seiner Nähe. Den Individuen gegenüber steht das Kollektiv mit gleichmachender Grausamkeit, aber auch mit dem Halt, den es einer sich verzweifelt windenden Frau gewährt. Die Schlußszene ist eine der dichtesten Momente: Schüsse fallen. Die Tänzer sitzen im Halbkreis, zucken im Takt eines hebräischen Liedes. Die Musik wird ekstatischer, die Verrenkungen immer schneller und verrückter. Befreit reißen sich die Tänzer die Kleidung vom Leib, ermatten während sich die Musiker schon abgewandt haben.

Einen Kontrast zum ersten bildet das zweite Stück „Arbos“ (Baum). Einschmeichelnd, zärtlich bewegen sich meist Paare zur Musik Arvo Pärts, die durch ihre sakrale Reinheit und Genauigkeit einen idealen Hintergrund für die Bewegungen bildet. In den an tibetanische Mönchsgewänder erinnernden Kostümen wird das religiöse Thema der Musik aufgenommen. In ruhiger Atmosphäre entsteht Raum für komplexe Beziehungen zwischen den Tänzern, geprägt von Trauer, Intimität, Eifersucht und Suche nach Liebe. bm

Ohad Naharins „Mabul“, heute, 20.30 Uhr, K6

Reza Abdoh & Dar A Luz: „The Law Of Remains“

Eine entfesselte Widerrede ohne Interpunktion ist Reza Abdohs „Gesetz der Überreste“. Eine Widerrede gegen den psycho-klinischen Glanz der TV-Realität, gegen die amerikanische Doppelmoral in ihrem Verhältnis zur Körperlichkeit, gegen die Übermacht des öffentlichen Images über die Geschichte einer Person. Für diese hat Abdoh den Massenmörder Jeffrey Dahmer als Signifikanten gewählt. Es sind die kollektiven Ängste der amerikanischen Gesellschaft, die der exil-persische Regisseur in dem dritten Teil seiner Bogeyman-Trilogie fixiert, und er betrachtet sie von unten. Mittels panisch verdrängter Vorstellungen wirft er einen Blick auf das Firmament der Selbstkontrolle, die nur damit beschäftigt ist, Wahrheiten im Dunklen zu halten. Abdoh entwirft eine Hölle der gesellschaftlichen Unpersonen, verwischt die Grenzen von Geschlecht und sexueller Identität und läßt seine Company alle Dinge tun, die man nicht tut.

Ein toter Wald mit hängenden Mumien, Dahmers Küche mit blutverschmierten Kühlschränken und ein infernalisches Bankett liefern den Rahmen für die aus Interviews, Kurz-Spielszenen und Massen-Choreografien bestehende Höllenfahrt, der sich in einer zweiten Halle ein nicht minder surrealer „Himmel“ anschließt. Entsprechend der Kraft, mit der sich die hier beschriebene saubere Psyche gegen den Aufstieg des Verbotenen ins Bewußtsein wehrt, ist auch die Inszenierung der Alpträume ein Werk von atemloser Schnelligkeit und gewaltätigen Schlüsselreizen. Szenen, Musik und Kostümierung wechseln im Minuten-Takt, ebenso die Klischees und Vorposten gesellschaftlicher Konventionen, die mit willentlich geschmacklosen Mitteln attackiert werden. Dennoch schockiert Abdoh nicht. Alle „extremen“ Szenen — ob blutiger Mord, große Orgie, Menschenfleischmenü oder Sado-Maso-Kapriolen — sind grotesk und ironisch überzeichnet und nie um Illusion bemüht. Mehr wie rasend hintereinander abgerissene Kalenderblätter mit gräßlichen Karikaturen vollzieht sich der Feuerritt der Gegenbilder. Ein Warholsche Subuniversum ist das erzählerische Netz (von einem Faden kann man hier nicht sprechen). Andy will einen Film über Dahmer drehen. Auf sechs Stationen, zwischen denen die Zuschauer hin- und hergescheucht werden, entwickeln sich Tableaus der Hemmungslosigkeit. Diverse Warhol-Planeten aus der Factory-Zeit treten auf, etwa Brigid Polk oder Viva Superstar, die in dem „Film“ Dahmers Mutter spielt.Die eindeutige Ausrichtung auf US-amerikanische Selbstbilder und die daraus resultierende schrille Heftigkeit der ästhetischen Reaktion führt leider aber auch zu einer gewissen distanzierenden Exotik. Die Ausmaße der angeklagten moralischen Diktatur, die in Abdohs Inszenierung nur im Umkehrschluß zu erahnen ist, zu erfassen, wird kein zwingender Vorgang. Doch auch wenn die global-kulturelle Grubenarbeit fehlt, so erfüllt sich Abdohs Anspruch, ein Gedankenmaterialfeld auszubreiten, mit einer bildlichen Übermacht, die triezt und fordert. Das Gesetz der Überreste wirkt fort. tlb

Noch heute, Halle 2, 19.30 Uhr

Albert Greenbergs „The Real World“

Eine Welt des Verlassenseins: Sirenen heulen auf, Albert Greenberg stürzt auf die bis auf Stuhl und Mikro leere Bühne, schlägt die Tür zu, gerettet. Gerettet? In der Halle 4 erzählt und spielt Greenberg in seinem Einpersonendrama The Real World Geschichten aus wahren Welten der Kindheit, des jüdischen Lebens, der Politik, von Verfolgung oder der haltbaren Verbindung zwischen Opfern und Tätern und schlicht und endlich von der Sehnsucht nach Liebe. Mit der heilenden Natur des Erzählens hat sich A Travelling Jewish Theatre in San Francisco, das aktuelle Themen aufgreift und sich gleichzeitig auf die Traditon der mythischen Wurzeln des Theaters bezieht, während seines 15jährigen Bestehens ebenso beschäftigt wie mit dem Attentat auf Trotzki oder Krisen im Mittleren Osten. TheReal World, „Eine theatralische Konfrontation mit Musik“ so der Untertitel, bezeichnet Theatermitbegründer, Autor und Schauspieler Albert Greenberg als Ergebnis einer „personal anthropology“. Aus dem leeren Raum greift sich Greenberg den toten Vater als Gegenüber, versucht ihn zu erreichen, beleuchtet das Alleingelassensein, um das Publikum im nächsten Moment mit auf eine Friedensdemo in San Francisco zu nehmen. „Fuck Israel“, Greenberg zuckt vom Peace-Schild eines neben ihm demonstrierenden Pazifisten getroffen zusammen. „Fuck Israel“ — einer weltweiter Schlachtruf von links bis rechts, den der wie aufgedreht agierende zweifelnde Propagandist des Dialogs in bittersüßem Plauderton aufspießt.Antisemitismus aller Coleur karikiert bis zum Schrecken, dann wieder drastische Hinweise auf seltsamste Koalitionen zwischen den Fronten oder die Widersprüche unter den Juden der Welt. Den Dialog beschwörend, begründet er im anschließenden Gespräch mit dem Publikum lakonisch, warum er „The Real World“ in Hamburg uraufgeführt habe: „They booked me“. Ein Zeichen der Normalisierung im Weltdorf. jk

heute und morgen, K4, 20 Uhr