Land der Mitte, ohne Mitte

Die Schwierigkeiten einer politischen Kultur ohne Krisenerfahrungen – das neue Deutschland im Jahre 4  ■ Von Karl Schlögel

Mit dem Ende der Nachkriegskonstellation geht auch Nachkriegs-Deutschland zu Ende. Auf das kurze Ende der DDR folgt die lange Agonie Westdeutschlands. Was von beiden bleiben wird, weiß niemand – es wird sich zeigen. Das Deutschland, das dabei ist, Vergangenheit zu werden, wird die Historiker beschäftigen. Das Deutschland, das unter unseren Augen Gestalt annimmt, ist eine Art work in progress – offen und vieldeutig wie jede Gegenwart. Wer Prognose für Anmaßung hält, muß sich an das halten, was im Gange ist: an die Auflösung einer staatlichen, politischen, sozialen und kulturellen Einheit mit dem Namen „Nachkriegs-Deutschland“ und an die Elemente einer Neubildung, in der vorerst nur der neue Staat einen Namen hat. Er wird den Erkenntnisvorteil inmitten des Umbruchs nutzen und kann es bei der Benennung der Elemente, in die sich das einstmals kompakte Ganze zerlegt, belassen. Er bekommt einen Aufschluß, der möglich ist, wenn Analyse nur noch gedanklicher Mittvollzug dessen sein will, was geschieht – ohne alle Überangestrengtheit, die dem Konstruieren von Perspektiven oder System-Normen anhaftet. Der alte Zustand wird faktisch transzendiert, also bedarf es keiner Kritik mehr, die von außen kommt – im Namen welcher Instanz auch immer. Die Krise des alten Zustandes ist die praktische Form seiner Kritik. Das Denken, das die deutsche Transformation begleitet, wird zur Selbstaufklärung der Deutschen. Der Übergang ist der Augenblick, in dem die alten Werte und Konventionen ihre Verbindlichkeit verlieren, wenn sie nicht neu begründet werden. Die Routinen, deren Intaktheit Macht begründet, sind dabei, aus dem Tritt zu geraten. Die Gewohnheiten hören auf, selbstverständlich zu sein. Der common sense, an den man sich gewöhnt hat und der der veränderten Realität nicht mehr entspricht, ist leer und gibt sich da, wo er zur Neubegründung nicht fähig ist, als Dogmatismus zu erkennen, der zerbricht. Der Dogmatismus aus Gewohnheit aber ist stärker als der aus ideologischer Borniertheit. Einst stimmige Sprachregelungen werden dissonant. Die Begriffe, die einmal etwas bezeichnet haben, beginnen, nachem ihnen der Gegenstand abhanden gekommen ist, wertlos zu werden – Wort- und Begriffsmüll auf den Halden, die Geschichte hinterläßt. Das Verschwinden der Mauer hat nur sichtbar gemacht, was man vorher schon wissen konnte: daß die Deutschen mitten in Europa leben und daß Deutschland etwas östlicher liegt als West-Deutschland, das dazu neigte, sich für das Ganze zu halten – nicht unähnlich jenem Westeuropa, das sich nun daran gewöhnen muß, daß es außer der „EG“ noch etwas anderes gibt. Es lohnt sich nicht, die Schlachten von gestern zu schlagen, wo die neuen Verhältnisse nach einer angemessenen Sprache verlangen, und wo es darauf ankommt, zu interpretieren, was ohne unser Zutun sich in rasendem Tempo verändert hat.

Die „Systeme“ sind gegangen, die Länder und Gesellschaften sind geblieben. Ost und West bezeichnen keine Systemqualitäten und Wesenheiten mehr, sondern bezeichnen Himmelsrichtungen, das Gefälle von Wohlstand und Armut, den unterschiedlichen Grad von Produktivität, Modernität, Konfliktpotentialen und Konfliktfähigkeiten. Sie bezeichnen die unterschiedlichen Folgen, die die Weltkriegsepoche für ganze Generationen haben konnte – je nachdem, auf welcher Seite der Demarkationslinie man geboren und großgeworden war. Ost und West sind vor allem: verschiedene Leben, die ihre eigene Dignität haben; unterschiedliche Lebenspläne und Biographien: verschiedene Aufstiegsmöglichkeiten und Lebensstile, unterschiedlicher Geschmack und Werdegang, ein Alltag, der seine eigene Schwerkraft besitzt – auch dann noch, wenn die „Kommandohöhen“ von einst verlassen oder in andere Hände übergegangen sind.

In der Transformationsperiode fliegt auf, was am Reden von der Mitte bloß Ideologie war. Aus der Vereinigung des geteilten Deutschland wurde der Beitritt im Schnellverfahren. Aus der Arbeit an dem neuen Konsens, die schwierig ist, wird der kurze Prozeß auf den Wegen, die man für die einfachsten hält. Man fordert nichts, sondern verspricht fast alles. Man wendet sich „an die Deutschen“, aber nicht an die Bürger, die sie auch sind und ohne die es die Nation nicht gibt. Man läßt die Parteirivalitäten nicht hinter sich, sondern treibt die Rivalen in die Ecke. Man löst nicht die obsoleten Koalitionen auf, um die Kräfte freizusetzen, die man braucht, sondern verfestigt sie, weil man sich da wenigstens auf bewährtem Terrain bewegt. Man ist nicht kühn, weil man weiß, was Bürgern zugemutet werden darf, sondern verwegen aus Ahnungslosigkeit – oder beleidigt, weil man von der Geschichte übergangen worden ist. Das Spiel der Bonner Parteien wog mehr als die Sache der deutschen Republik. Man verläßt sich mehr auf die Rezepte, die sich bewährt haben, als auf die Offenheit, die das Nachdenken über Lösungen fordert, die der Gegenwart entsprechen. Man vertraut der Administration und der Effizienz Westdeutschlands mehr als den Bürgern, die mit den Situationen fertig werden müssen, an denen Administrationen scheitern. Man stellt Pläne auf, die man aufstellen kann, wenn man viel Geld hat, und stellt nicht die Gedanken an, die man anstellt, wenn es knapp ist. Man schweigt von der Krise, in der alles anders werden wird, und begnügt sich mit dem Verweis auf die Rezession, nach der alles wieder so sein wird wie zuvor.

Ökonomismus und Administration besetzen das Feld, das in intakten Gemeinwesen dem Politischen gehört. Aber man fühlt sich dem Erhalt der Parteimacht mehr verpflichtet als den Bürgern, die auch dann noch in der Pflicht bleiben, wenn Regierungen längst pensioniert sind. Man weicht aus den Beschränkungen der Gegenwart in die Zukunft aus und begleicht die Rechnungen, die heute offen sind, mit der Lebenskraft der Generationen, über die doch niemand ein Verfügungsrecht hat. Oder man ficht ersatzweise die Kämpfe der Gegenwart auf dem Feld der Vergangenheit aus. Man redet vom exemplarischen Charakter der „deutschen Einigung“ für ganz Europa, und ahnt nicht, daß der deutsche Fall aufgrund der Asymmetrie des geteilten Deutschland zwar nicht der schwerstwiegende, aber der komplizierteste aller Fälle von Transformation ist. Man möchte anderen etwas demonstrieren und wälzt doch nur die Probleme, mit denen man selber nicht fertig wird, auf die anderen ab. Man fürchtet sich vor einem negativen Urteil des Auslands mehr als vor dem Urteil, das die Bürger im eigenen Land fällen könnten. Man zieht den Alleingang hinter verschlossenen Türen der Neuverhandlung der „deutschen Frage“ in der Öffentlichkeit vor. Politische Klugheit erschöpfte sich darin, Züge, die in rasender Fahrt sind, anzufeuern. Alles muß so schnell gehen, wie das bei Getriebenen eben der Fall ist. Aber Zeit läßt sich nur, wer die Kraft zum Standhalten besitzt und sich den Schwierigkeiten der Konsensbildung aussetzt. Für „Politiker des kurzen Blicks und der schnellen Hand“ (Friedrich Nietzsche) ist Gelassenheit keine Tugend.

Was Gesellschaften sind, wie stabil ihre politischen Einrichtungen und wie achtenswert oder verächtlich ihr Personal ist, zeigt sich in der Bewältigung der Ausnahmesituation, wenn die Sicherheiten, die Routine und Kontinuität geboten haben, aufgekündigt sind. Was die DDR war, zeigte sich in ihrem raschen Verfall. Was die BRD war, zeigt sich nicht in ihren Selbstproklamationen, sondern darin, wie sie den Übergang von dem einen in den anderen Zustand bewältigt. Die deutsche Einigung ist von ihrem Beginn an gezeichnet von Hast, Furcht vor offenem Konfliktaustrag, Angst davor, sich auf die Krise, die die Einigung ist, einzustellen. Sie trägt die Züge einer Flucht nach vorn, und in ihren großen Plänen ist die Atemlosigkeit der Getriebenen zu spüren, die ihrer Sache nicht ganz sicher sind und die Statur nicht besitzen, dies auch auszusprechen. Auf die Selbstverleugnung ist die Selbstüberhebung gefolgt.

Aber wahrscheinlich ist an diesem Ablauf der Ereignisse nichts Erstaunliches. Es geschah, was geschieht, wenn es eine intakte, konfliktbewußte und konfliktfähige bürgerliche Öffentlichkeit nicht mehr gibt. In Deutschland im Augenblick der Einigung gab es diese Öffentlichkeit nicht. Die Szenerie war beherrscht von Apologie und Legitimation, wenn es um die Sanktionierung schon getroffener Entscheidungen ging; und von einer Kritik, die „im Prinzip“ immer recht hat. Es gab keinen Ort, an dem die Sache selbst öffentlich verhandelt wurde, und keinen Ort, an dem jene, die etwas zu sagen hatten, noch gehört wurden. An den Einwänden interessierte nur, was sich als illusorisch denunzieren ließ, und an den Rechtfertigungen, das was plausibel war.

In der BRD sind die Ansätze zu einer bürgerlichen Öffentlichkeit nie stark genug gewesen, um sich aus der verhängnisvollen Lagermentalität und dem Parteikampf zu lösen. Der Inbegriff der politischen Kultur der BRD ist das Lagerdenken, in das man sich in jedem Fall zurückziehen konnte. Lagerdenken gab jene innere Sicherheit, über die die Republik in Wahrheit nicht verfügte. Das ideologische Lager war die heile Welt, in der es sich aushalten ließ. Parteizugehörigkeiten und Richtungen stifteten mehr Zusammenhalt als

Fortsetzung auf Seite 13

Fortsetzung von Seite 12

die Kraft, die aus dem Verfahren, dem sie sich stellen, erwächst.

Das Lagerdenken ist die politische Kultur eines beschädigten und depravierten Gemeinwesens. Es hatte seine Voraussetzungen in der totalen Katastrophe von 1933 bis 1945, und es hatte seine Folgen in der Flucht in jene Sicherheiten, auf die die Davongekommenen in besonderem Maße angewiesen sind. Das geteilte Land ist von der NS-Katastrophe und dem Kalten Krieg mehr gezeichnet worden, als es der schriftlichen Verfassung anzusehen ist. In ihnen ist die Mitte nicht bloß geographisch, sondern vor allem als soziale und kulturelle Größe untergegangen und mußte sich mühsam neu bilden.

Das geteilte Deutschland ist der Ort einer Öffentlichkeit, in der man sich immer für oder gegen etwas, für die eine oder die andere Partei zu entscheiden hatte und der Gegner nie daran gemessen wurde, was er zu sagen hatte, sondern daran, ob er „Beifall von der falschen Seite“ bekam oder „dem Feind“ nutzte. An Gedanken war nie wichtig, ob sie angemessen und wahr waren, sondern wem sie nützten oder nützen könnten und wem sie schadeten. Eine solche Kultur begnügt sich mit der Reaktion auf „Reizwörter“, in denen sie sich auskennt. Sie braucht die Stigmatisierung und Ausgrenzung, um einen Zusammenhalt zu wahren, der in offener Auseinandersetzung auseinanderfiele. Es ist eine Methode zur Depotenzierung und Verarmung. Hinter der Fassade, die intakt bleibt, läuft ein Auszehrungsprozeß ab. Alle Weltläufigkeit kann den Mief der späten Jahre der Bundesrepublik, ihrer Abwehr gegen die neuen Vorgänge und ihre Selbstgenügsamkeit nicht ungeschehen machen.

Die destruktiven und korruptiven Folgen dieser Lage für die deutsche Einigung liegen auf der Hand – selbst die verwegenen Helden des Nachtrabs nehmen es mit der gehörigen Verspätung zur Kenntnis. Die deutsche Einigung und die Wandlung des europäischen Szenarios bieten die Chance, die Lagermentalität zu zerbrechen, zu deren Auflösung die Bundesrepublik aus eigener Kraft nicht in der Lage war. Mit ihrem Ende wird selbst Westdeutschland einen Gewinn aus der Einheit in Freiheit ziehen, die doch mißlingt, wenn nur an altruistische Gefühle appelliert würde. Die Frage ist nur, ob sich jetzt wenigstens jene Kräfte finden werden, die in Nachkriegsdeutschland antagonisiert und paralysiert waren.

Mit dem Anschluß und der Durchsetzung der alten westdeutschen Eliten ist die Lagermentalität jedenfalls auch ins neue Deutschland eingewandert. Die Entfremdung der politischen Generationen wird komplettiert durch die Entfremdung der Landsleute. Ob die Generation, deren Schlüsselerlebnis „1989“ ist, sich an dieses zweifelhafte Vermächtnis halten wird, darf bezweifelt werden. Sie muß sich auf Deutschland einstellen, wie es geworden ist, nicht wie man es sich als Stellvertreter denken und wünschen konnte. Sie kann sich den Luxus obsolet gewordener Feindbilder nicht mehr leisten und muß sich davor fürchten, der eigenen Propaganda, der die Ahnungslosen noch vertrauen mußten, zu verfallen – der Preis solcher Täuschung wäre zu hoch und zu riskant. Sie gewinnt die Erfahrung, die jene nicht besitzen, die vom Vaterland meist nur einen dürren Begriff haben konnten, weil sie selbst nur im Westen oder Osten aufgewachsen sind. Und sie muß ohne die Tröstungen auskommen, die man haben konnte, solange man sich als die beste aller Welten verstehen durfte. Die Angehörigen dieser Generation müssen das Land, in dem sie leben, in Ordnung bringen – egal ob sie „Patrioten“ oder „vaterlandslose Gesellen“ sind. Diese Generation muß sich auf eine Gegenwart einlassen, zu deren Begreifen die „Lehren aus der Geschichte“ wenig hergeben. Sie vertauscht ein Zuviel an Geschichte, das immun macht gegen die Wahrnehmung einer Gegenwart, gegen ein Mehr an Gegenwart, das borniert sein kann, aber auch aufgeschlossen macht gegenüber der Ambivalenz der Vergangenheiten. Sie wechselt aus der Sphäre der gesicherten Überlieferung in die Sphäre eines ungesicherten Handlungsortes. Sie tritt aus dem Schatten der Vergangenheit, in dem man verstummt, in Konfliktherde der Gegenwart, an denen man sich verbrennen kann. Sie mißt sich nicht an einer Geschichte, die sie nur vom Hörensagen kennt, sondern an den Kräften der Gegenwart, an denen sie möglicherweise scheitert. Über den Verlust von Themen und lohnenden Gegenständen braucht sie sich nicht zu beschweren – es gibt mehr davon, als sie bearbeiten könnte. Ihr Problem ist nicht, wie sie den Reichtum verschleudert, sondern wie sie mit den knappen Ressourcen umzugehen lernt. Sie hat es mit den Opfern der gegenwärtigen Konflikte zu tun, denen man helfen muß oder denen man Hilfe verweigert, nicht mit den Opfern der Vergangenheit, mit denen man sich auch identifizieren kann, wenn es nichts kostet. Sie lernt erneut die Bescheidenheit derer, die nicht wissen, wie eine Geschichte ausgeht, und sie verfällt vielleicht in den Wahn derer, die alles noch einmal neu zu erfinden glauben. Sie ist nicht in der Position derer, die über die Geschichte, die zu Ende ist, nach Gutdünken und gutem Gewissen verfügen. An Simulationen besteht kein Bedarf in einer Welt, die einen zum unfreiwilligen Mitakteur macht. Sie kann sich in die Sicherheiten, die die „bewältigte Vergangenheit“ bietet, nicht mehr flüchten, sondern macht die Erfahrung des Scheiterns an der Gegenwart. Sie löst sich aus der Fixierung auf die Chiffren, die so beruhigend Korrektheit und Abweichung einmal definiert haben. Ihr Leben hört auf, vorwiegend um Literatur zu kreisen. Sie tritt in die Phase der ursprünglichen Akkumulation ihrer eigenen Erfahrungen, in der jene, die daran nicht mehr teilhaben, nur noch beschränkt mitreden können. Sie tritt aus der Sphäre der Verlegenheiten, in der alles gleich wahr und gleich wichtig ist, in die Sphäre, in der schon aus Knappheitsgründen „einschneidende Entscheidungen“ fällig werden.

Die Ismen der Nachkriegszeit sind für sie von bloß noch dogmengeschichtlicher Relevanz, nichts, woran sich Sein oder Nichtsein, Charakter oder Charakterlosigkeit erwiese. Ihre Diskursgemeinschaften rechnen nicht mit dem, was sich an ihre Regeln hält, sondern mit dem, was sich roh und gewalttätig dem Diskurs entzieht. Ihre Kommunikation ist erst auf der Höhe der Zeit, wenn sie mit jenen rechnet, die vielleicht nicht über Argumente, aber doch über die Gewalt verfügen, die jede Kommunikation illusorisch macht. Ihre Teilnehmer rekrutieren sich nicht nur aus den Kreisen, deren Gesittung sich von selbst versteht. Sie arbeitet nicht an dem, was in der gesitteten Welt fraglos Gültigkeit hat, sondern an der Behauptung der Welt, die in Frage gestellt ist.

Die Generation von 1989 kann sich den Luxus ideologischer Geisterschlachten nicht mehr leisten, und sie inszeniert neue, wenn sie mit der Lage nicht zurechtkommt. Sie muß ohne gutgemeinte pädagogische Ermahnungen aus zweiter Hand auskommen und lernen, den eigenen Kopf zu gebrauchen. Sie lebt in einer Zeit, in der die Differenz von Begriff und realem Stand der Dinge gefährlich werden kann. Sie spürt in der Neuheut der Situation den eklatanten Mangel an Aufklärung und vermutet in der Rede vom „Ende der Aufklärung“ nur das Lamento einer überforderten Intelligenz. Sie hat genug von der Rechthaberei, diesem sichtbarsten Symptom einer ihrer selbst nicht sicheren Kultur, das im Vereinigungsprozeß nicht entstanden, sondern nur nach außen getreten ist. Ihre Bewegungsweise ist im besten Fall die, die sich einstellt, wenn sich die Hast der zu spät gekommenen Nation gelegt hat, und die Fehler gemacht worden sind, aus denen Selbstsicherheit wächst.

Von der westdeutschen Teilrepublik anzunehmen, sie könne sich die Arbeit der Vereinigung aufladen, war von allem Anfang an eine ebenso beschränkte wie anmaßende Vorstellung. Von einer Republik, die es für sich selbst in Zeiten der Prosperität schon kaum vermocht hatte, den inneren Ausgleich der politischen Generationen und die fällige Modernisierung zu bewerkstelligen, war nicht zu erwarten, daß sie dazu nun im größeren Rahmen fähig sein würde. Die Verspanntheit im Verhältnis der politischen Generationen und die Ideologisierung von Konflikten, die in der gerade 40 Jahre alt gewordenen Bundesrepublik nicht aufgelöst worden waren, wanderten in das neue Gebilde ein. Der Stil, sich nur auf jene zu stützen, die der je eigenen Gesinnung am nächsten standen, und denen zu mißtrauen, die dem Establishment fernstanden; die wenig verbreitete Stärke, von Schwächen und Fehlern sprechen zu können; die Flucht in Antworten, die man doch nicht hat; die gebetsmühlenhaften Versicherungen der Bündnistreue – all das zeugt von einer im Innersten ihrer Sache unsicheren politischen Kultur, sobald Situationen auftreten, die in der 40 Jahre alt gewordenen Routine der BRD noch nicht aufgetreten sind. Von Adenauer-Enkeln und Kindern des Kalten Krieges waren angemessene Antworten so wenig zu erwarten wie von jenen 1968ern, die sich in der Opposition an sich eingerichtet oder sich in die Marginalität geflüchtet oder dorthin hatten treiben lassen. Der Kanzler und sein Herausforderer waren das die späte Bundesrepublik adäquat repräsentierende Personal des sich gegenseitig blockierenden Parteienstaats. Es hing nicht an ihnen, ob es zur Einigung kam oder nicht – es war ein Vorgang von historischer Wucht, der keiner Regisseure bedurfte. Und für die Bestimmung des Wie, die Ausarbeitung der Modalitäten standen eben nur die Kapazitäten bereit, die dann in Aktion getreten sind. Das Verhängnisvolle am deutschen Einigungsprozeß sind nicht irgendwelche Fehler, die gemacht oder unterlassen wurden, sondern die Tatsache, daß die Bundesrepublik nicht mehr aufbieten konnte als das, was sie war mit ihrer Partei- und Lagerkultur und dem dazugehörigen Personal. Sie hatten die Erfahrungen, die man im späten Westdeutschland eben machen konnte, aber sie waren allesamt Anfänger in der Situation, die über sie gekommen war. Auch der Westen hatte sein Ancien régime. Es wird in seiner Hilflosigkeit jenem immer ähnlicher, das im Osten in Pension gegangen ist.

Aber die Krise gibt es auch dann, wenn sie ignoriert wird. Deutschland ist nur einer von vielen Abschnitten auf dem Band europäischer Gesellschaften, die in Transformation begriffen sind. Die Krise ist die Form, in der Transformationen ablaufen. Sie ist der große Lehrmeister, der nicht darum bitten muß, gehört zu werden. Sie zwingt den Leuten, die sich für die Herren der Geschichte halten, ihre Maßstäbe auf.

Deutschland ist vielleicht auf eine Rezession vorbereitet, aber nicht auf die Erschütterungen, die entstehen, wenn sich eine Gesellschaft neu konstituiert. Deutschland hatte keine Meister des Übergangs, sondern Anfänger, die sich durch die Stabilität der heilen Welt, aus der sie kamen, verführen ließen und in der Krise nur die Bedrohung, nicht die natürliche Form des Übergangs sahen. Krisenerfahrene Gesellschaften sind stabiler als solche, denen die Krise gleichbedeutend mit Weltuntergang ist. Umgangssicherheit in Ausnahmesituationen mindert die Gefahr des Ausbruchs von Panik. Krisenbewußtsein aktiviert die Leute, die ansonsten gewohnt sind, auf die rettenden Aktionen des intakten Staates oder der starken Hand zu setzen. Die Infragestellung des Selbstverständlichen hilft, sich neu zu arrangieren, Durchhalteparolen führen zu Angst und Hysterie, wenn sich der versprochene Ausweg als Sackgasse erweist.

Deutschland, das den Weg in die politische Konfiguration des Runden Tisches nicht gefunden hat und noch immer dem Glauben anhängt, die Transformation ließe sich gleichsam hinterrücks und im Großen und Ganzen unbemerkt „abwickeln“, ist besonders anfällig für das Scheitern des Übergangs. Nicht im armen Warschau mit seinen Hunderttausenden von Migranten, Reisenden und Flüchtlingen und nicht in Moskau, dessen Lebensmittelversorgung zusammengebrochen ist, kam es zu gezielter Gewaltabfuhr gegen die Gruppe der „Anderen“, sondern im reichen Deutschland, das um seinen Reichtum bangt. Die Gewalt brach nicht dort auf, wo die Armut am größten war, sondern dort, wo der Konsens über die fälligen Umverteilungen am geringsten war. Was im entscheidenden Augenblick versäumt war, muß nun nachgeholt werden, ohne daß der kairós des Gelingens je wiederkehren würde.

Der Autor ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Konstanz. Wir entnehmen seinen Essay mit freundlicher Genehmigung dem Band von Michael Großheim, Karlheinz Weißmann und Rainer Zitelmann (Hg.): „Westbindung. Chancen und Risiken für Deutschland“ (552 Seiten, 58 DM), der dieser Tage im Propyläen Verlag erscheint.