■ Dokumentation des Briefs von Klaus S. aus Wiesbaden
: „Ich entkam ... ich bin kein Bulle“

Fakt ist – ich war in Bad Kleinen. Ich habe Birgit und Wolfgang getroffen. Fakt ist auch, daß ich nicht festgenommen wurde, sondern entkam. Für mich sah das so aus, als hätte man mich nicht laufenlassen, sondern war eher Produkt von Pannen und Koordinationsproblemen der Bullen. Falls sie mich gezielt laufenlassen haben, müßte das bedeuten, sie wollten mich dazu benutzen, durch spätere Observationen weitere Leute zu kriegen; und sie wußten um meine Identität, also haben mich im Vorfeld des Treffs in Bad Kleinen erkannt und sind mir/uns gefolgt.

Da Birgit und Wolfgang auch eine Zeitlang alleine auf dem Bahnhof/Kneipe waren, kann es auch sein, daß die Bullen sich erst auf die beiden stürzten, mich wie andere Reisende aus der Schußlinie schafften (die Querschläger flogen mir um die Ohren). Die Befragung von Kneipenzeugen erfolgte erst später, als ich schon weg war und sie merkten, daß jemand fehlte.

Im nachhinein kann ich nur bestätigen, was Birgit auch schrieb, nämlich, daß die Bullen voll durchgedreht waren, vielleicht wegen ihres toten Bullen oder wegen der Ermordung von Wolfgang, was einige Leute auf dem Bahnhof mitgekriegt haben müssen.

Als ich da weg war, bin ich davon ausgegangen, daß sie mich zu suchen beginnen, evtl. auch offen. Es ist nicht auszuschließen, daß sie Fingerabdrücke von mir gefunden haben oder sonstige Hinweise auf meine Identität. Vielleicht hätten sie mich auch ganz laufenlassen, um mich später indirekt zu benutzen (s.o.).

Als die Medien irgendwann von der dritten Person in der Kneipe erfuhren, kam schon der Verdacht der Liquidierung von Wolfgang auf. Ich weiß nicht, ob die Bullen in dieser Situation noch eine Fahndungspanne hätten zugeben können (vielleicht ließen sie mich ja doch absichtlich laufen) oder ob sie die V-Mann-Gerüchte streuten. Für die Medien muß dies aber eine glaubhafte Erklärung gewesen sein, da die „Fahndungspanne“ bald nicht mehr erschien. Ich dachte dazu: Verunsicherung der Szene, der Guerilla kann den Bullen bei weiteren Ermittlungen helfen, von der politischen Katastrophe für uns mal ganz abgesehen.

Alle, die mich kennen, wissen ich bin kein Bulle und würde solchen Mördersäuen noch nicht mal ein Kochrezept verraten, geschweige denn einen Genossen ans Messer liefern. Vielleicht hoffen sie jetzt mit so einer Dreckskampagne mich bei meinen Freunden so zu denunzieren, daß ich mich nicht mehr trauen soll zurückzugehen und freiwillig Kronzeuge werde. Diese Rechnung wird nicht aufgehen.

Auch wenn jetzt Ministerköpfe ausgetauscht werden, an der staatlichen Vernichtungshaltung gegenüber revolutionären Prozessen wird sich nichts ändern. So wie sie damals '77 in Stammheim mordeten und danach die Zellen zubetonieren ließen, werden sie auch jetzt wieder vertuschen und verschweigen, lügen und konstruieren.

Ich bitte Euch alle, jetzt nicht den Kopf in den Sand zu stecken – ich denke, ich weiß, wie tief die Trauer, der Schmerz, die Wut auch bei Euch sein wird. Auch ich muß meinen Kopf permanent wieder aus dem Sand ziehen und mich meiner realen Situation stellen, ohne gerade abzusehen, wie es für mich weitergeht.

Laßt mich nicht im Stich.

Viel Kraft wünsch' ich Euch allen.

Der von Hand geschriebene Brief ging am Samstag dem Wiesbadener „Komitee zur Aufklärung des Todes von Wolfgang Grams“ zu, das ihn nach eigenen Angaben Personen vorlegte, die dem Erschossenen nahestanden und die Schrift als seine identifizierten.

Eigene Recherchen der taz legen ebenfalls nahe, daß der Brief authentisch ist. Vermutlich hat Klaus S. ihn tatsächlich aus dem Untergrund geschrieben, doch kann auch nicht ausgeschlossen werden, daß er sich als V-Mann unter der Obhut des Staatsschutzes befindet und einvernehmlich mit diesem den Brief abgefaßt hat.