Les Milles will das Schweigen brechen

In der Ziegelei des südfranzösischen Dorfes waren im Zweiten Weltkrieg Tausende Flüchtlinge interniert / Jahrzehntelang war die Erinnerung an die Kollaboration mit den Nazis tabu  ■ Aus Aix-en-Provence Peter Bausch

Erstmals fand am vergangenen Freitag ein offizielles Gedenken zum Jahrestag der Judendeportationen in Frankreich statt. Am 16. Juli 1942 waren fast 12.890 Juden, darunter über 4.000 Kinder, von der französischen Polizei im Pariser Radrennstadium zum Abtransport in die Vernichtungslager zusammengetrieben worden. Vertreter jüdischer Organisationen forderten am Freitag, jetzt sollten auch französische Staatsorgane wie das Parlament die damalige Verfolgung und Deportation der Juden in die Vernichtungslager verurteilen.

Gut 40 Jahre lang verhüllte dichter roter Staub die triste Vergangenheit der Ziegelfabrik Les Milles, heute ein Stadtteil von Aix- en-Provence. 40 Jahre lang war le camp ein Tabu in dem kleinen Dorf. Stück für Stück hat eine Handvoll Wissenschaftler im letzten Jahrzehnt die Mauer des Schweigens durchbrochen, hat Zeitzeugen befragt und zum Sprechen gebracht, Dokumente gesichert und veröffentlicht. Erst im letzten Winter hat Serge Klarsfeld die Namen der 42 Schulkinder ausfindig gemacht, die im Spätsommer 1942 mit rund 1.900 Juden, Flüchtlingen und Widerstandskämpfern von Südfrankreich aus über Drancy in die Gaskammern von Auschwitz deportiert wurden.

Das Dorf Les Milles will sichtbare Zeichen setzen. Seit letztem November steht auf einem grasüberwucherten Gleis des stillgelegten Bahnhofes der „Wagon-Souvenir“, ein einfacher Viehwaggon, gespendet von der staatlichen Eisenbahngesellschaft SNCF. Das Gefährt, in dem Schüler eine Dokumentation aufgebaut haben, soll die Provenzalen auch morgen noch daran erinnern, daß die heute wieder florierende Ziegelei ein in Südfrankreich einzigartiges Symbol für das „Crescendo des Schreckens“ im Zweiten Weltkrieg ist.

„Wir kamen nach der Stadt Aix, nach dem Orte Les Milles, wir durchfuhren ihn, wir fuhren die niedrige Mauer der Ziegelei entlang, die uns aufnehmen sollte, hielten auf der staubigen Landstraße vor dem großen Tor.“ So beschreibt Lion Feuchtwanger im Roman „Der Teufel in Frankreich“ seine Ankunft 1940 im Internierungslager. Max Ernst, der surrealistische Maler, 1939 und 1940 zweimal in Les Milles festgesetzt, bevor ihm die Flucht in die USA glückte, schreibt über seine ersten Eindrücke im Lager: „Überall waren Trümmer und Staub von Backsteinen, selbst in dem wenigen, das man uns zu essen gab. Der rote Staub drang in Poren und Haut ein. Wir glaubten, verdammt zu sein, Trümmer von Backsteinen zu werden.“ Hans Bellmer verfolgt das „Backstein-Meer“ bis an sein Lebensende: „Die Ziegelei ist ein Ort, der den ersten Christen angemessen wäre“, schreibt der Künstler, der in Les Milles ein Porträt seines Kollegen Max Ernst gezeichnet hat – aus Backsteinen.

Feuchtwanger, Ernst und Bellmer sind nur drei Namen unter Tausenden, die vor den deutschen Faschisten geflohen waren und in Frankreich auf eine bessere Zukunft hofften. Das Asylrecht stand in der Dritten Republik Daladiers allerdings nur auf dem Papier. Nach der Kriegserklärung Frankreichs im September 1939 an das Deutsche Reich wurden selbst Flüchtlinge, die sich freiwillig in der französischen Armee verpflichten wollten, gezwungen, sich in Sammellagern zu melden.

An der bedrückenden Erfahrung, daß „jetzt im Exil die Emigranten nicht als Verbündete Frankreichs im Kampf gegen Roheit und Barbarei, sondern als Mitschuldige behandelt und eingesperrt werden“, zerbrach Walter Hasenclever. Der Schriftsteller nahm am 21. Juni 1940 in Les Milles eine Überdosis Schlaftabletten. Walter Benjamin überlebte in der Ziegelei, starb aber Ende September 1940 in Port-Bou beim Fluchtversuch nach Spanien.

Nach dem Waffenstillstandsabkommen im Juni 1940 sollte die Ziegelei geschlossen werden, wurde aber im November 1940 schon zum Durchgangslager in der „freien Zone“ – die Provence war bis 1942 in französischer Verwaltung unter deutscher Kontrolle. Zur Hölle, zum „Vorzimmer“ für die Gaskammern von Auschwitz, wurde Les Milles im Sommer 1942. Aixer Wissenschaftler um Jacques Grandjonc haben nachgewiesen, daß Franzosen zur „Endlösung der Judenfrage“ eng mit den Nazis zusammengearbeitet haben und zum Teil weit über die Forderungen der Deutschen hinausgegangen sind. Am 10. August 1942 wurden die ersten 262 Frauen und Männer in Viehwaggons auf dem Bahnhof von Les Milles zusammengepfercht: „Pferde: acht. Menschen: vierzig“, das Schild auf dem „Waggon der Erinnerung“ hat auch heute noch nichts von seinem Schrecken verloren. Dutzende von Selbstmorden und Suizidversuchen, verzweifelte Versuche von Geistlichen, in letzter Minute einzelne Menschen zu retten.

Das Dorf Les Milles will heute zu seiner Geschichte stehen. Auch wenn es ein Symbol für Intoleranz, Fremdenhaß, Rassismus und Verantwortung der Vichy-Regierung ist: „Einige Widerstandskämpfer haben hier die Ehre der Menschheit gerettet“, sagte Alain Chouraquel, der vor gut einem halben Jahr zwei Aktionswochen zum Thema in Aix-en-Provence organisiert hatte. Gegen tausend Widerstände ist im Dezember 1990 das Sträßchen von der Ziegelei entlang der Bahnlinie zum „Chemin des déportés“ (Weg der Deportierten) getauft worden, im Oktober 1992 wurde eine Grundschule nach Auguste Boyer benannt. Der ehemalige Wachsoldat des Lagers hatte sich besonders für die Flüchtlinge eingesetzt.

Das Dorf Les Milles würde gerne einen Schritt weitergehen und eine Gedenkstätte für die Opfer von Faschismus und Rassismus aufbauen. Die Grundsatzbeschlüsse sind längst gefaßt. 1982 ist in letzter Minute verhindert worden, daß die Ziegelei-Betreiber ein Werkstattgebäude abgerissen haben. In dem Fabrikteil sind noch Wandmalereien erhalten, die Künstler wie Max Ernst, Hans Bellmer, Wolfgang „Wols“ Schulze oder Ferdinand Springer in Les Milles damals geschaffen haben. Das Gebäude ist seit 1989 im Besitz des französischen Staates. Die Ziegelfabrik hat damals sogar versprochen, den Kaufpreis von rund 100.000 Mark für die Gedenkstätte zu spenden.

Louis Monguilan fragt sich, wo das Geld geblieben ist: „Das Dach ist jetzt offenbar wieder dicht, aber die Wandmalereien sind kaum noch erkennbar. Man läßt dieses Zeitzeugnis einfach verkommen.“ Bei der „Direction interdépartementale des anciens combattants“ in Marseille – im Kriegsveteranenbüro liegt der einzige Schlüssel für den Fabrikteil – zeigt man sich vorsichtig: „Wenn alles gutgeht, wird dieses Jahr weiter renoviert. Die Arbeiten sind jedenfalls ausgeschrieben, aber ein genaues Datum ist noch nicht festgelegt.“ Louis Mongulian: „So geht das schon seit Jahren. Es tut sich einfach nichts, immer wieder werden wir vertröstet. Die Gedenkstätte ist noch in weiter Ferne.“