Weg isser! Teil 3: Die Zeitlüge
■ Aus dem Tagebuch eines neuerdings autolosen Menschen
Fast einen Monat jetzt ohne eigenes Auto. Eines ist mir genommen: diese nervige Entscheidungsfindung Bahn oder doch die Blechkiste. Bei jeder Fernreise galt es abzuwägen: Bequemlichkeit (IC?, Bummelzug?, Umsteigefrequenz?), Fahrplanwidrigkeiten, unklare Anschlüsse vor Ort gegenüber Autostreß, Stauwahrscheinlichkeit (spätnachmittags durchs Ruhrgebiet – Wahnsinn!), Parkplatzsuche. Ist das Auto nicht doch schneller und hat alle Vorteile, wenn man Sachen transportieren muß?
Was habe ich mir manchmal vorher einen Kopf gemacht, Fahrpläne gewälzt und Zeit verplempert. Und dann doch falsch entschieden: Entweder war Stau, oder ich verpaßte irgendeinen Anschlußzug. Immer hatte ich das Gefühl, falsch entschieden zu haben. Jetzt also die Bahn und öffentlicher Nahverkehr. Und damit ist mir etwas Neues gegeben: Allerlei Kümmernisse mit der Bahn treten in mein Leben.
Besonders die Ost-West- Verbindungen sind bisweilen die Hölle. Neulich die Marterstrecke Köln–Gießen: „Das Unternehmen Zukunft“ präsentierte sich als holpernder „Eil“zug mit ekligen, roten Uraltplastikbänken und brauchte fast drei Stunden für 170 Kilometer. Furchtbar!
Aber ich konnte den Müßiggang des Reisens entdecken: Kontaktsuche oder Ruhe. Quatschen und flirten oder lesen, sitzen und sinnen. Das hat schon was, nur muß man es erst lernen.
Sicher: Im Auto hätte Köln– Gießen, ohne Stau oder Panne, gut eine Stunde weniger gedauert. Aber im Auto ist Weg nichts als Mittel zum Zweck. Die Landschaft sieht man nicht mal als Kulisse, kennt Städte und Dörfer nur, wenn sie als Abfahrt ausgewiesen sind. Und: Jede Minute im Auto ist tote Zeit. Wenn manche Leute sagen, sie könnten beim Autofahren gut nachdenken, sei es ihnen gegönnt (wenn es denn stimmt), ich konnte es nie. Jetzt frage ich mich nur, ob das Auto folglich das ideale Fortbewegungsmittel für Denker ist. Bernd Müllender
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